Morgenandacht
Gemeinfrei via unsplah/ Lampos Aritonang
Was soll das mit der Gnade?
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13.11.2021 06:35

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Die Sendung zum Nachlesen: 

Im Kirchsaal der umgebauten Kirche ist noch ein Vers aus der Bibel an der Wand zu lesen:

Lass mich am Morgen hören deine Gnade; denn ich hoffe auf dich. (Psalm 143,8a)

 

Der Vers steht über der in den ehemaligen Kirchsaal eingebauten Theke. Ein Ort für lange Abende, feucht-fröhliche Partys und wunderbare Begegnungen. Gern frage ich die Gäste, was sie zu diesem Bibelvers sagen.
 

David, 23, studiert Literatur- und Politikwissenschaften – sitzt an der Theke. Er fragt, während er einen kräftigen Schluck von seinem Bier nimmt: "Gnade am Morgen? Für mich bedeutet Gnade am Morgen, dass ich aufwache und vom Vorabend keinen Schädel habe."

 

"Das wird morgen nichts" prophezeie ich ihm. Er denkt nach, dann setzt er an. "Gnade. Was für ein Wort. Gnade klingt ja gut und schön, aber was heißt Gnade heute noch?"

 

Bevor ich ihm meine schlauen theologischen Konzepte darbieten kann, rutscht er auf seinem Barhocker hin und her und fragt mich vorwurfsvoll:

 

"Sag mir, wo ist die Gnade, wenn sich Menschen weltweit aus religiösen Gründen umbringen?

Wo ist die Gnade, wenn unschuldige Menschen sterben, weil sie nichts zu essen haben?

Wo ist die Gnade, wenn kleine Kinder von irgendwelchen kranken Hirnen vergewaltigt werden?"

 

Ich sag nichts. Reiche ihm ein Bier. Dankbar und zugleich in Rage trinkt er die frisch gezapfte Schaumkrone ab und stellt das Glas auf den Tresen.

 

"Tom" sagt er und wischt sich weiße Schaumreste vom Mund, "Ich verstehe ja die Sehnsucht nach Gnade, wir brauchen sie doch! Aber ehrlich gesagt fällt es mir schwer auf einen da oben zu hoffen, wenn ich all das Leid in der Welt sehe."

 

"Verständlich", werfe ich einsichtig und zugleich vorsichtig in den Raum. "Gnade ist vermutlich nicht das, was wir erwarten, weil unsere Wirklichkeit oft so anders aussieht."

 

David beugt sich nach vorn, so als würde es jetzt ernst: "Dieses Konzept der Gnade, das du mit deinen klerikalen Freunden so propagierst, ist doch eine völlige Antithese zu dem, was ich sonst erlebe. Es spricht gegen so vieles, was um mich herum passiert.

In der Uni zum Beispiel: Wenn ich die Frist nicht einhalte oder zu wenig Credit Points habe, dann bin ich geliefert. Nichts mit Gnade. Und das ist ja wirklich noch das geringste.

Noch schlimmer: Wenn die Taliban nach 20 Jahren Militäreinsatz durch Afghanistan marschieren und nun ein Unrechtsregime aufbauen, wenn sich mitten in der Nacht Menschen auf das Dach ihres Hauses retten müssen, weil ihr Schlafzimmer gerade überflutet wurde, wenn ein Bundesligaverein nur erfolgreich sein kann, weil er von einem Brausehersteller finanziert wird – wo ist denn dann die Gnade?"

 

Ich muss schmunzeln, weil David RB Leipzig absolut nicht leiden kann. "David", sage ich, "Ich befürchte, du hast Recht. Gnade ist eben oft gerade nicht das, was wir um uns herum erleben. Gnade kostet. Dich, mich, uns alle.Denn wie oft bin ich nicht selbstlos, sondern gnadenlos?

Gnade zu leben, bedeutet immer Verzicht. Verzicht auf Macht, Verzicht auf Recht und oft sogar Verzicht auf Geld. Also all die schönen Dinge, die unser Leben doch vermeintlich besser machen.
Wenn ich gnädig sein möchte, kostet mich das was. Es ist unbequem."

 

David schaut mich weiterhin fragend an. Ich versuche es noch einmal:
"Ich weiß, dass ich irgendwo immer scheitern werden. Was nützt es auf Demos zu gehen und gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution zu kämpfen, wenn ich trotzdem Shirts kaufe, die von Frauen und Mädchen für einen Hungerlohn produziert werden? Will ich gnädig mit unserer Umwelt sein, fange ich an, weniger Fleisch zu essen und mehr mit dem Rad zu fahren. Und dann bemerke ich, wie hoch mein ökologischer Fußabdruck ist, einfach weil ich in einem Haus wohne und ein Auto besitze. Schon der Versuch, Gnade zu leben, ist zum Scheitern verurteilt. Aber sollten wir das Konzept deswegen über Bord werfen? Nenn mich naiv, nenn mich Träumer. Ich halte trotzdem daran fest."

 

"Träumer" sagt er lächelnd. Dann wird er wieder ernst: "Ich sehe hier zwei Möglichkeiten:

Entweder ist Gnade völliger Unsinn. Es ist Unsinn, weil es nicht der Realität, meiner Realität entspricht. Oder aber, Gnade ist das absolute Ideal, für das es sich zu leben lohnt.
Ich bin mir nicht sicher, ob es so etwas wie Gnade gibt. Aber eins macht schon Sinn: Ich sollte hoffen, dass es sie gibt!"

 

Wir erheben die Gläser und stoßen an – auf die Gnade.

 

Es gilt das gesprochene Wort.