Gemeinfrei via unsplash/ James Besser
Demut ist auch ein Mutwort
20.02.2022 06:05
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung nachlesen:

Glauben Sie an Gott? Und wenn ja: Glauben Sie, dass Gott etwas Bestimmtes mit Ihnen vorhat? Dass da ein eingespeicherter Plan ist, der Ihrem Dasein einen Sinn gibt?

Ich glaube an Gott. An einen Plan glaube ich nicht. Obwohl mir der Gedanke gefallen würde: Mit einer Mission unterwegs zu sein. Bei der jede vertrödelte halbe Stunde an der Bushaltestelle, jede schlaflose Nacht einen Sinn bekäme. Eine Mission, die bestimmte Fragen ein für alle Mal klärt: Wofür ich aufstehen soll. Ob Abwasch oder Twitter gerade wichtiger ist. Welche Freizeitbeschäftigung mich erfüllt. Eine Mission, der ich zielgerichtet durch den Alltag folge. Eine Mission, die aus mir eine Superheldin macht.

Aber Gott schüttelt den Kopf: „Nope. Nee. Keine Mission für dich. Die schlechte Nachricht ist: Ich brauche dich nicht.“ Das muss erstmal sacken. In der Sache überrascht mich das nicht wirklich, aber etwas mehr Behutsamkeit hätte ich von Gott schon erwartet. Zwar bilde ich mir nicht ein, unersetzlich zu sein. Schon gar nicht weltweit betrachtet. Aber es wäre schön zu wissen: Susanne, die ist dafür da, dass 17,3 % ihres Umfeldes weniger streiten. Noch besser wäre natürlich etwas Größeres. Susanne soll eine Pyramide bauen. Zum Beispiel. Etwas Konkretes, an dem man arbeiten kann im Leben. Zeichnungen anfertigen, Räume ausmessen, Steine hauen, Mittagspause machen und ein Käsebrot essen. Start and Repeat. „Die Welt braucht keine Pyramiden mehr“, holt mich Gott zurück. Ich frage: „Was dann?“ Gott räuspert sich:

 

„Ich zitiere: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was ich von dir will: Gerechtigkeit tun, Freundlichkeit lieben, und demütig mitgehen mit deinem Gott.“

(Micha 6, 8)

 

Ich zucke zusammen. Demut. Wirklich? Das verstaubteste aller Mutworte?

 

Ich sitze im dämmrigen Licht eines Dachzimmers. Draußen tost die Nordsee und der Sturm pfeift ums Haus. Die Teelichter flackern, 25 Jugendliche haben es sich auf dem Boden gemütlich gemacht. Jugendfreizeit auf Spiekeroog. Mindestens die Hälfte der Mädchen versteckt verliebte Blicke hinter Ponysträhnen, wenn Kai Gitarre spielt. Ich auch. Seine Stimme ist warm und tief und alle singen mit: „Humble thyself in the sight of the lord. And he shall lift you up. Higher and higher. And he shall lift you up.” Ich tauche immer tiefer in den gleichförmigen Gesang, der sich steigert und wieder fällt. Wie Wellen, von denen ich mich tragen lasse. Auf und ab, hoch und tief. Alltag und Schule sind weit weg in diesem Moment. Alles ist ganz. Ich bin geborgen in einem
Kokon aus Stimmen und Kerzenlicht, aus Gemeinschaft und Transzendenz.

Erst später beginne ich zu zögern, dieses Lied zu singen. Hin- und hergerissen zwischen seinem Sog und dem Wort „Demut“, das im Englischen gleich viel sanfter klingt: Humble thyself in the sight of he lord: Demütigt euch vor dem Herrn.

Zu oft habe ich erlebt, wie Demut eingefordert wird. Besonders in der Kirche. Wie Menschen klein gehalten werden. Wie das sanfte Licht der Kerzen einer grellen Durchleuchtung weicht und Menschen gesagt wird: Du bist ein sündiger Mensch. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn Gott sich deiner erbarmt. Deshalb hör auf das, was die Bibel/der Prediger/deine Eltern/die Tradition dir vorschreiben. Sonst bist du verloren. Demut kann man als Waffe benutzen. Sie kann Holzhammer und Totschlagargument sein.

 

Demut ist ein Wort, das nicht in fremde Finger darf. Zwischen gedemütigt werden und demütig sein liegt ein Himmel weit Unterschied. Der besteht vor allem in seiner Freiwilligkeit. Das Wort kommt aus dem Althochdeutschen. „Dienen“ steckt darin. Demut ist also der Mut zu dienen. Einer Sache. Einer Überzeugung. Auch Menschen. Dann ist Demut eine heilsame Haltung: Ich akzeptiere, nicht das Maß aller Dinge zu sein. Wem ich dienen möchte: dem Alltagsfrieden. Einer unspektakulären Freundlichkeit. Der Demokratie. Einer Gesellschaft, in der der Irrtum salonfähig ist. Ich möchte dazu beitragen, dass die Welt über mein Leben hinaus ein erstrebenswerter Ort bleibt. Deshalb hebe ich manchmal Zigarettenkippen auf, obwohl ich sie nicht weggeworfen habe. Deshalb widerspreche ich, auch wenn ich persönlich nicht betroffen bin. Denn Demut bedeutet gerade nicht, unterwürfig zu schweigen. Um einer Sache zu dienen, braucht man Mut, die eigene Stimme zu erheben. Besonders dann, wenn mit mächtigem Widerspruch zu rechnen ist. Demut ist ein Mutwort, das nur auf den ersten Blick schüchtern wirkt.

 

Demut ist nichts für Feiglinge. Sie sagt dir ins Gesicht: Du wirst sterben. Komm damit klar. Du kannst das ignorieren, kannst ein bisschen was an deinen Falten machen lassen. Du kannst dir eine Frau oder einen Mann suchen, die zwanzig Jahre jünger sind. Du kannst Smoothing-Filter für deine Selfies benutzen. Du kannst behaupten, Alter sei doch nur eine Zahl. Der Tod steht trotzdem in der Tür und winkt. Manche Menschen lösen das über eine hohe Selbstbewertung. Sie tun alles dafür, die Welt zu überzeugen, dass es nicht ohne sie geht. Sie tun so, als seien sie unverwundbar. Auf alles, was ihren Selbstwert bedroht, reagieren sie aggressiv. Denn es gibt viel zu verlieren. Demütige Menschen haben bereits etwas losgelassen: Die Vorstellung, unverzichtbar zu sein. Sie haben die Fähigkeit, sich selbst zu vergessen, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas Größeres richten. Etwas, das sie erfüllt und zu dessen Entfaltung sie beitragen. Sie machen es, nicht sich, größer. Demut stiftet Gemeinschaft, weil niemand Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer sein muss. Damals im Dachzimmer auf Spiekeroog hat der Sog jenes Liedes sich nur entfalten können, weil wir viele waren. Weil unsere Stimmen zu einem Gesang verschmolzen und ich etwas erlebte, das mich über das anstrengende Selbst meines aknebesetzten Teenagerdaseins hinaushob. Ich saß auf dem Boden eines schreddeligen Gruppenhauses und musste nicht glänzen. Ich war mehr als Ich.

Im lateinischen Wort für Demut, humilitas steckt „Humus“: Erde. Komm mal runter. Erde dich. „Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“ Du brauchst kein Überflieger zu sein. Und außerdem muss es doch ziemlich anstrengend sein, sich ständig aufzuplustern und unter der Decke zu kreisen. In Sack und Asche brauchst du aber auch nicht zu gehen.

 

Um mit diesem Widerspruch besser klar zu kommen, hilft Humor. Auch darin steckt „Humus“. Bodenhaftung. Ich stelle mir vor, wie Gott unser Bemühen sieht und die Anspannung und den Wunsch, alles richtig zu machen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn Gott plötzlich sagte: „Jetzt lacht doch mal!“ Und wir würden ungläubig gucken, weil das nicht in unser Bild passt. Aber Demut heißt auch, die eigenen Bilder vom Sockel zu stürzen. Nicht nur das Bild von uns selbst, sondern auch unser Bild von Gott oder von Nichtgott, je nachdem, was uns besser in den Kram passt. „Lacht doch mal“, würde Gott also sagen. „Über euch selbst und meinetwegen auch über mich. Wie ihr auf harten Kirchenbänken sitzt und vom Himmel träumt. Lacht doch mal über eure Verbissenheit, gut sein zu wollen und dann doch so herrlich über das alltägliche Scheitern der anderen lästert. Lacht über euren Vorsatz, weniger im Netz zu surfen und dafür eine App runterzuladen. Über euren Wunsch, zurück zur Natur zu wollen und erstmal neun Stunden im Flugzeug zu sitzen. Frieden beim Meditieren zu finden, indem ihr alle aufpoppenden Gedanken bekämpft. Lacht über eure Anstrengung, euch nicht anzustrengen. Über euer Festhalten daran, loslassen zu wollen. Über die schwere Übung, leicht zu sein. Lacht über den Wunsch, nichts zu wollen. Wir könnten zusammen lachen, ein augenzwinkerndes Erkennen, dass alles Versuch ist und manchmal einfach Haschen nach dem Wind.“

Demut bedeutet nicht, vor Ehrfurcht zu erstarren. Sondern zu erkennen, dass alle Erkenntnis Stückwerk ist. Im Buch „Der Name der Rose“ fürchtet der Chef-Bibliothekar das Lachen:

 

„Lachen tötet die Furcht. Und ohne Furcht kann es keinen Glauben mehr geben. Wer keine Furcht vor dem Teufel hat, der braucht keinen Gott mehr.“

 

Eine Schrift über das Lachen von Aristoteles wird für so gefährlich gehalten, dass sie versteckt und bewacht werden muss. Lachen hilft. Komik kann eine paradoxe Intervention sein. Wenn gar nichts mehr geht, wenn alles zu fürchterlich zu sein scheint. Stopp. Lachen. Reset. Ich meine kein hämisches, kein schadenfrohes Lachen. Nicht dieses Lachen, das andere von oben herab belächelt. Ich meine ein Lachen, das erkennt und akzeptiert, wie skurril der Ernst des Lebens sein kann. So ein Lachen kann magisch sein. Es kann mich über mich selbst erheben, wenn ich mich und meine unglaublich wichtige Sicht der Dinge auf den Arm nehme. Im „Namen der Rose“ entgegnet ein kluger Mönch dem Bibliothekar:

 

„Man hat dich belogen, der Teufel ist nicht der Fürst der Materie. Der Teufel ist die Anmaßung des Geistes, der Glaube ohne ein Lächeln, die Wahrheit, die niemals vom Zweifel erfasst wird.“

 

Ohne Lachen gäbe es keine Erkenntnis. Die Schwere eines Irrtums wäre zu groß. Demütig zu sein bedeutet, zugleich weinen und lachen zu können: Über das Scheitern und unsere tausend Bemühungen, das Scheitern zu vermeiden oder zu verstecken.

 

Ein Rabbi wurde einmal gefragt: „Was ist der Mensch?“ Der Rabbi nahm zwei Zettel. Auf den einen schrieb er: Staub bist du und zu Staub sollst du wieder werden. Auf den anderen schrieb er: Du bist das Ebenbild Gottes. Einen Zettel steckte er in die linke, den anderen in die rechte Hosentasche. „Wenn ich überheblich werde“, sagte er, „dann greife ich in die linke Tasche und lese: Staub bist du. Wenn ich am Boden zerstört bin, dann greife ich in die rechte Tasche und lese: Du bist das Ebenbild Gottes.“

Im ersten Testament der Bibel gibt es neben den zehn Geboten eine verwirrende Vielzahl von Regeln:

 

„Ihr sollt euer Haar am Haupt nicht rundherum abschneiden, noch euren Bart stutzen. Wer seinen Sklaven oder seine Sklavin schlägt mit einem Stock, dass sie unter seinen Händen sterben, der soll dafür bestraft werden. Bleiben sie aber ein oder zwei Tage am Leben, so soll er nicht dafür bestraft werden. Lege kein Kleid an, das aus zweierlei Faden gewebt ist.“

(3. Mose 19,27; 2. Mose 21,20f; 3. Mose 19,19)

 

Man bekommt den Eindruck, eine Menge falsch machen zu können, wenn man nicht aufpasst. Auch heute noch. Gott wolle heterosexuelle Gläubige mit 2,7 Kindern. Nach Osten ausgerichtete Gebete. Unverheiratete Priester. Den Mensch als Krone der Schöpfung. Roten Wein zum Abendmahl. Keinen Wein in der Fastenzeit. Manche professionelle Gläubige scheinen sehr genau zu wissen, was Gott will – sie sind sich nur nicht immer einig. Kein Wunder, dass die anderen irgendwann verwirrt oder genervt fragen: Was sollen wir denn nun tun? Was gefällt Gott wirklich?

Der zuständige Prophet Micha fasst es zusammen. Einfach und zum Mitschreiben:

 

„Es ist dir gesagt, was gut ist und was Gott bei dir sucht: Gerechtigkeit tun. Freundlichkeit lieben. Und demütig mitgehen mit deinem Gott.“

 

Das kann man an den Spiegel schreiben oder sich auf den Unterarm tätowieren oder zusammengefaltet ins Portemonnaie stecken. Auf jeden Fall kann man es sich auf der Zunge zergehen lassen, so einfach, so gut. Die ersten beiden Punkte sind klar: Gerechtigkeit tun. Tun ist mehr als die Beteuerung, dass sich etwas ändern muss. Tun ist etwas anderes als mit richtigen Wörtern um sich zu werfen. Tun ist konkret. Tun ist Bewegung: Fairgehandelten Kaffee kaufen. Jemandem auf die Beine helfen. Keine Dumpinglohnunternehmen unterstützen. Auf möglichst viel verzichten, für das andere den Preis zahlen. Auf die Straße gehen und demonstrieren. Sich die Mühe machen, eine Meinung zu begründen. Für andere eintreten. Widersprechen gegen Rassismus und Antisemitismus.

Und dann: Freundlichkeit lieben. Das ist mehr als eine Pflicht. Lieben ist etwas anderes als anerzogene Höflichkeit. Bitte und danke sagen und auf Knopfdruck lächeln. Lieben ist eine Haltung. Einfordern kann man sie nicht. Aber ausprobieren. Sie macht das Leben freundlicher: Bei der Blumenverkäuferin vom Leuchten ihrer Narzissen schwärmen. Jemanden über den grünen Klee loben (weil man es ernst meint). Türen aufhalten. Die Mütze lüpfen. Sich mitfreuen. Ein Taschentuch anbieten oder ein gutes Wort. Freundlich auch mit sich selbst sein.

Gerechtigkeit und Freundlichkeit brauchen Tuworte, damit sie lebendig werden. Genauso scheint es mit Gott zu sein, wenn es im dritten und letzten Punkt heißt: Demütig mitgehen mit deinem Gott. Was immer du Gott nennst: Liebe. Weisheit. Ewigkeit. Allumfasstheit. Das Wissen, dass es etwas gibt, das weit über dich hinausgeht. Mitgehen bedeutet: Gott ist nicht in Stein gemeißelt. „Das war schon immer so“ gilt nicht. Gott ist nicht greifbar, sondern erfahrbar. Gott schwebt nicht über den Dingen, sondern lässt sich in allen Dingen finden. An Gott zu glauben bedeutet mitgehen. Und weil Gott Gott ist und ich ein Mensch bin, geht das nur demütig. Oder anders übersetzt: behutsam. Um mich nicht zu überfordern. Die Fußstapfen sind groß. Demut hilft, nicht ins Stolpern zu geraten.

„Die schlechte Nachricht“, sagt Gott: „Ich brauche dich nicht. Die Welt existiert ohne dich.“

Ich frage: „Und was ist die gute?“

„Ich liebe dich.“

Gebraucht zu werden wäre leichter. Wer gebraucht wird, kann etwas leisten. Kann sich eine Daseinsberechtigung erarbeiten. Kann aufsteigen im Olymp der Unabkömmlichen. Wer geliebt wird, braucht einfach nur zu sein. Ohne zu beweisen, was für ein toller Hecht man ist, was für eine gerissene Taktikerin, was für ein deeper Typ, was für eine brillante Rednerin, was für ein Gewinn für die Menschheit. Das ist schwer auszuhalten. Eine Portion Demut hilft.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
 

  1. Sacre Fleur, Wohl denen die da wandeln
  2. Peter Licht, Alles, was du siehst
  3. Danger Dan, Gute Nachricht
  4. Sacre Fleur, Schalom Chaverim
  5. Sacre Fleur, Schalom Chaverim
  6. Danger Dan, Gute Nachricht
  7. Clueso, Wenn ein Mensch lebt