Morgenandacht
Gemeinfrei via unsplash/ NordWood Themes
Neue Kleider - Menschenwürde
06.07.2022 06:35

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Gleich neben dem Café im Kirchenladen gibt es eine Kleiderkammer. Vor Jahren, als ich dort arbeitete, war das ein richtig schöner Second-Hand-Laden, fast schon ein Vintage-Shop. Was es da für wenig Geld zu kaufen gab, war ganz moderne, hochwertige Kleidung. Gespendet meist von einem Bürgerclub aus der Nachbarstadt. Wie groß die Chance war, dort etwas Schickes zu finden - man sah es an den Gesichtern, wenn die Kunden ins Café zurückkamen. Aufrecht, mit geradem Rücken. Auch den Ehrenamtlichen, die dort arbeiteten, machte es Spaß. Ich erinnere mich an eine arbeitslose Schuhverkäuferin, die einfach wusste, was zu wem passte. Sie hatte einen Blick für die Menschen, zog die richtigen Blazer oder Shirts aus dem Regal und zauberte damit ein Lächeln auf die Gesichter.

Von dieser Frau habe ich über die Jahre gelernt, was es wirklich bedeutet, einen Menschen zu kleiden. Es geht um Schönheit und Würde. Darum, dass ein Mensch sich selbst annehmen kann. Äußerlich, aber eben auch innerlich. Mich hat das an die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn erinnert. Der hatte große Träume gehabt, war dann aber tief gesunken - am Ende lebte er auf der Straße. Schließlich hat er nur noch eine einzige Hoffnung; er geht nach Hause zurück – zu dem Vater, dessen Erbe er durchgebracht hat. Ich sehe ihn vor mir in seiner zerrissenen Kleidung, den Rücken gebeugt. Aber der Vater erkennt ihn sofort, er läuft ihm entgegen und umarmt ihm. Und dann lässt er ihn neu einkleiden - ein teurer Anzug, neue Schuhe. Ich stelle mir vor, wie der Gebeugte, der verlorene Mensch sich aufrichtet, zu sich selber findet, sehe das Lächeln auf seinem Gesicht. Für die Bibel symbolisiert die Kleidung den Menschen, der sie trägt. Zieht den neuen Menschen an, schreibt Paulus einmal, als es darum geht, als Christ, als Christin zu leben. Wir können einander dabei unterstützen. Es fängt damit an, dass wir die anderen mit neuen Augen sehen.

In Kassel auf der Documenta-Kunstausstellung findet sich – mitten im Grünen gleich an der Orangerie - eine riesige Wand aus alten Stoffballen. Müll, den das Nest-Collectiv aus Kenia hierher gebracht hat - unter dem Motto "Return to Sender". Es ist nur ein winziger Bruchteil der Massen von Kleidern, Hosen, Jacken, die wir hier Tag für Tag aussortieren und in Container werfen. Nicht als Abfall, sondern einfach, weil sie nicht mehr passen, nicht mehr modisch sind. Wenn ich das selbst nicht mehr tragen kann oder will, sollen wenigstens andere etwas davon haben. Eigentlich ein guter Gedanke. Doch längst ist ein riesiger industrieller Kreislauf daraus entstanden: Allein in Deutschland werden jährlich 100 Millionen überflüssige Kleidungstücke produziert - fünfmal im Jahr für eine neue Saison. Auf schnellen Verbrauch kalkuliert und meist schnell verschlissen. 40 Prozent der Container-Kleidung ist nicht mehr tragbar, wenn sie in Afrika ankommt. Der Rest zerstört Bekleidungsindustrie und Handwerksbetriebe dort. Mit den gebrauchten Jeans für einen Dollar kann dort niemand konkurrieren. Also trägt man im globalen Süden die abgelegten Kleider des Nordens. Fast Fashion, schon am Anfang der Lieferkette zu niedrigen Löhnen in Ostasien produziert, beherrscht den weltweiten Markt. Das Nest-Collectiv, das die Stoffballen zur documenta nach Kassel gebracht hat, führt allen die ganze Wahrheit vor Augen.

Denn es gibt auch eine Gegenbewegung und das Kollektiv ist Teil davon. Aktivistinnen, Designerinnen, Schneiderinnen in Kenia und hier haben selbst angefangen, alte Kleider zu recyclen – in Schneiderwerkstätten, für die Wochenmärkte, inzwischen auch mit neuen Modelabels. Aus alt und neu entstehen phantasievolle Patchworkkleider. Ganz individuelle Kleidungsstücke - wer sie trägt, erzählt etwas über die eigene Herkunft und die eigenen Träume. Solche Schneiderwerkstätten gibt es inzwischen auch bei uns. Auch so können wir einander helfen, zu uns selbst zu finden – man braucht nur Sensibilität, handwerkliches Geschick, einen kritischen Blick auf unsere Zeit – und einen Glauben, der in dem anderen mehr sieht, als jetzt vor Augen ist.

Es gilt das gesprochene Wort.