Füreinander da sein, nicht wegschauen
mit Pfarrer Wolfgang Beck aus Hildesheim
04.03.2023 22:55

Menschen bringen die Kranken aus ihren Familien und Menschen mit Behinderungen aus ihren Häusern auf die Straßen. So beschreibt es die Bibel von den ersten Jünger*innen um Petrus (Apg 5,15). Da haben Menschen offenbar die Hoffnung, dass sie von Jesu Jüngern geheilt werden. Menschen, die krank sind oder eine Behinderung haben, werden aus den Hütten und Häusern in die Öffentlichkeit gebracht. Das ist das Entscheidende hier: Sie werden nicht mehr versteckt, müssen nicht mehr im Verborgenen leben. Sie treten ins Freie. Eigentlich konnte ich mit diesen biblischen Erzählungen von Wundern und Heilungen lange nicht besonders viel anfangen. Diese Geschichten wirken auf einen modernen Menschen doch irgendwie reichlich naiv, vielleicht auch ein bisschen wie Zauberei. Aber ein Detail fasziniert mich: Noch bevor es um die Heilung der Einzelnen oder eine besondere Begegnung geht, erfolgt eigentlich so etwas wie eine Heilung der Gesellschaft. Warum das wichtig ist? Es gibt zu allen Zeiten üble Mechanismen, mit denen Not und konkrete Menschen mit schlimmen Schicksalen verdrängt werden. Sie werden abgedrängt und unsichtbar. Ganz anders bei dieser biblischen Erzählung: Menschen an die Straße zu bringen heißt, sie sichtbar zu machen. Raus aus den dunklen Nischen und Hinterzimmern! Nach vorne und in die Mitte der Menschen! Ins Zentrum  der Aufmerksamkeit! Es ist das Statement, dass das Schicksal dieser Menschen alle angeht und sie ganz selbstverständlich mit dazu gehören. Vielleicht ist diese Form einer „Heilung aller“ von den toxischen Mechanismen des Verdrängens sogar die eigentliche, die zentrale Heilung, die Menschen erleben können. Wie das konkret aussehen kann?

 

In dieser Woche wurde in Bayern ein Gerichtsprozess gegen eine Äbtissin, die leitende Schwester eines Klosters, geführt. Schwester Mechthild Thürmer musste als Angeklagte vor Gericht erscheinen. Sie ist eine ziemlich taffe, selbstbewusste Ordensfrau, die Flüchtlingen Schutz in ihrem Kloster gewährt. Sie stellt sich damit gegen Polizei und Staatsanwaltschaft, für die schon entschieden ist, dass Abschiebungen in Dritt- und Herkunftsländer erfolgen sollen. Klar, den einen ist das Kirchenasyl der Schwester ein Rechtsbruch, eine Unerhörtheit. Den anderen ist es der Triumph des humanen, menschenfreundlichen Umgangs mit Menschen, die Not leiden – gegen rechtliche Regelungen, die manchmal eben auch unmenschlich und damit Unrecht sind. Aber es geht der Ordensfrau nicht darum, sich mit dem Gerichtsprozess zu inszenieren – ich glaube, sie ist ziemlich uneitel. Sie bringt auf ihre Weise die Menschen, die in Not sind, an die Straße, also in die Öffentlichkeit. Sie hält den Blick auf Schicksale wach, die unfassbar hart und schmerzlich sind. Und sie leistet damit auf ihre Weise einen großen Dienst an unserer Gesellschaft, die gerne Menschen mit besonderer Not abdrängt und unsichtbar macht. Die Geflüchteten haben bei ihr eine zweite Chance erhalten.

Erst in der vergangenen  Woche gab es wieder die Meldungen von einem im Mittelmeer gesunkenen Boot. Mehr als 60 Tote waren da an die Küste Italiens gespült worden. Die Situation ist unerträglich und skandalös. Das Elend  schnell fast keine Meldung mehr wert. Von den Hunderten und Tausenden, die auf der Flucht ertrinken oder auf andere Weise umkommen, spricht kaum jemand. Hauptsache man muss sich nicht damit befassen. Die Not wird zur Routine. Bloß nicht sehen und hören, was da an unseren Europäischen Grenzen passiert.

Umso wichtiger ist es, die Not, manchmal auf die Straße zu tragen, sie sichtbar zu machen. Eine Gesellschaft, die das nicht aushält, ist ganz und gar nicht heil.

Einen gesegneten Sonntag für Sie.

Sendeort und Mitwirkende

Norddeutscher Rundfunk (NDR)
Redaktion: Sabine Pinkenburg
 

Kontakt zur Sendung

Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den NDR

Andreas Herzig, Erzbistum Hamburg

Am Mariendom 4

20099 Hamburg


Tel.:   040 248 77 112

E-Mail: herzig@erzbistum-hamburg.de

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