Foto: Gemeinfrei
Vergebung kann alles verändern
Live-Übertragung aus der Immanuel Kirche, Köln Stammheim
05.11.2023 09:05
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Predigt zum Nachlesen:
I

"Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!"

Liebe Gemeinde, hier in der Immanuel-Kirche und zuhause oder unterwegs am Radio oder via youtube!

Gerade haben wir mit dem Lied unseren christlichen Glauben bekannt. Jeden Sonntag hat das Glaubensbekenntnis seinen festen Platz im Gottesdienst. Mag sein, das ist alte Sprache, es sind alte Inhalte, den meisten kaum noch bekannt. Für viele sind das verstaubte Glaubenssätze aus früherer Zeit. Oder?

Aber ich mag das, wenn ich meine Stimme mit den Stimmen der Menschen um mich herum vermische, wenn wir mit den alten Worten unserer Mütter und Väter im Glauben bekennen, wovon wir überzeugt sind, was uns wichtig ist.

Für mich ist das Glaubensbekenntnis nichts für die Mottenkiste! Jedes Mal, wenn ich es spreche, frage ich mich, welche Zeile mir grad am wichtigsten ist, welche ich am liebsten lauter sagen würde als den Rest. Und jedes Mal gibt es Sätze, bei denen meine Zweifel mitschwingen, so dass ich sie lieber nur leise murmeln möchte.

Mit Jugendlichen im Konfirmandenunterricht habe ich das einmal so gemacht: Ich habe die einzelnen Sätze des Glaubensbekenntnisses auf große Papierstreifen geschrieben und auf den Boden gelegt. Dann konnten die Jugendlichen sich mal dahin stellen, wo sie am meisten Zweifel haben, und mal dahin, wo sie am ehesten zustimmen können: „Ich glaube an Gott, den Vater…“, „den Schöpfer“, „Ich glaube an Jesus Christus, geboren von der Jungfrau Maria…“, „auferstanden von den Toten“, „Ich glaube an die christliche Kirche“, „die Vergebung der Sünden“, „das ewige Leben“. Eindrucksvoll war es, den alten Text mit den Jugendlichen so zu veranschaulichen.

Zu welchem Satz würden Sie sich hinstellen? Wo haben Sie Zweifel? Wo können Sie zustimmen, was ist Ihnen besonders wichtig? Immerhin ist das ein Bekenntnis. Vor vielen hundert Jahren haben sich christliche Gemeinden darauf verständigt: „Wenn dich jemand fragt, woran du glaubst – das ist das Wichtigste!“

Heute bleibe ich hier hängen: „Ich glaube an die Vergebung der Sünden.“ Wie sprechen Sie diese Zeile mit? Laut oder leise? Voller Inbrunst oder zweifelnd?

 

II

In der Lesung haben wir diese Geschichte vom Vergeben gehört. Ich schaue vor allem auf den einen, der uns heute als Identifikationsfigur begleiten soll: den Verwalter. Es wird erzählt: Der Verwalter hat einen hohen Schuldenberg angehäuft. Er kann ihn kaum jemals zurückzahlen. Nun fleht er auf Knien seinen König an. Er soll Geduld mit ihm haben. Damit hat er sogar Erfolg. Ihm werden alle Schulden erlassen. Keine Sekunde zögert der König. Kaum zu glauben! Der Schuldenerlass gelingt, so einfach! Große Dankbarkeit!

Und gleich im nächsten Moment wird dieser von Schulden befreite Verwalter zu einem handgreiflichen Typen. Weil ein anderer bei ihm Schulden hat, packt und würgt er ihn, unheimlich brutal. Dabei geht es doch um eine wesentliche kleinere Summe. Umso drastischer erscheint mir die heftige Reaktion des Verwalters. Der andere fleht und bettelt, aber das erreicht sein hartes Herz nicht. Unerbittlich lässt er den anderen sogar ins Gefängnis werfen.

Eine Geschichte. Biblisch gesprochen ein Gleichnis. Das heißt: Wir können unser eigenes Leben gut damit vergleichen. Wie gehen wir mit Schuld und Vergebung um? Die biblische Geschichte kann uns als Raum dienen, den wir mit unserem Leben füllen. Schlüpfen wir doch mal in die Rolle des Verwalters, auch wenn es wahrhaft keine Traumrolle ist. Eher eine unangenehme Rolle, denn wer von uns will schon so ein hartherziger, brutaler Unsympath sein? Also, ich hoffe, Sie sind bereit für ein Gedankenspiel, in dem Sie nun den Mantel des Verwalters anziehen. Jede und jeder für sich. Im Stillen. Keine Bange: Ihre Gedanken, die Bilder, die vielleicht vor Ihrem inneren Auge entstehen, bleiben ja bei Ihnen. Und wie gesagt: Jetzt geht es nicht um Schulden, also im einen größeren oder kleineren Geldbetrag, sondern um Schuld. Nicht so genau zu ermessen wie ein Betrag in Euros. Aber ein Gefühl dafür haben wir sofort: Ist das lösbar oder nicht? Nur eine Kleinigkeit oder eine echt schwere Last? Also hinein in die Rolle! Schlüpfen Sie in den Mantel des Verwalters!

Du, Verwalter, hast einem anderen gegenüber eine riesige Schuld aufgehäuft. Da ist etwas zwischen euch geschehen, das es euch nun unmöglich macht, euch noch in die Augen zu sehen. Du hast wirklich Bockmist gebaut. Das Verhältnis zwischen euch ist komplett zerrüttet. Höchste Zeit, die Sache wieder gut zu machen! Doch die Schuld ist so groß, dass es aus deiner Perspektive unmöglich erscheint. Du fühlst dich wie begraben unter deiner Schuld, ganz unten. Und der Andere thront weit oben über dir. Er hat die Situation vollkommen in der Hand, und er hat Macht über dich. Du nutzt deine vielleicht letzte Chance, indem du ihn um Vergebung bittest. Mehr noch: du flehst verzweifelt darum. Dir bleibt nichts Anderes mehr. Du bist vollkommen der Willkür des Anderen ausgeliefert. Wie geht es dir in diesem Moment? Als du um Vergebung bittest…

Dir wird Vergebung geschenkt! Du kannst aufatmen. Du kannst dich wieder aufrichten. Die Last abschütteln, unter der du gerade noch wie begraben warst. Du kannst dem Anderen wieder in die Augen sehen. Der scheinbar unüberwindliche Abstand wurde durch den Anderen beiseitegeschafft. Halleluja!

Und? Ist vor Ihrem inneren Auge eine solche Situation auftaucht? Denken Sie noch mal einen Moment darüber nach. Dann konzentrieren Sie sich auf die eine/den einen, mit der/dem Sie genau das erlebt haben, was ich grad beschrieben habe. Können Sie das wunderbare Gefühl wieder aufrufen, das Sie überströmt hat, als Ihnen vergeben wurde? Können Sie es genießen?

 

III

Unsere Geschichte geht ja weiter. Schlüpfen Sie ein zweites Mal in den Rollenmantel des Verwalters. Eine neue Situation, doch nun bist du in der Position, in der einer zu dir kommt, weil zwischen euch auch ein Schuldberg, wenn auch ein viel kleinerer, aufgetürmt ist. Naja, vielleicht nicht aufgetürmt, sondern eher angehäuft. Die Sache, um die es geht, ist kleiner, überschaubar. Und nun fällt der andere vor dir auf die Knie und bittet dich darum, dass du ihm vergibst. Du hörst seine Bitte, du siehst, dass er am Boden liegt. Du bist in der überlegenen Position. Du hast es in der Hand. Gelingen oder Scheitern der Situation? Gelingen oder Scheitern eurer Beziehung?

Und du handelst. Du hast keine Geduld. Du scheinst keine Gnade zu haben. Du vergibst dem anderen nicht. Du bleibst hart. Hartherzig. Willst du oder kannst du nicht anders handeln?

Ich weiß nicht, ob es Ihnen an dieser Stelle geht wie mir. In meinem Bauch zieht sich gerade alles zusammen. Ein mulmiges Gefühl. Ich habe, obwohl ich das gar nicht möchte, das Bild eines Menschen vor meinem inneren Auge, mit dem ich es genauso erlebt habe. Der etwas überwinden will, das zwischen uns passiert ist. Der mich bittet, dass ich es ihm vergebe. Und ich mache es nicht. Ich schaffe es nicht. Ich will es nicht. Meine Verletzung sitzt zu tief. Da ist keine Heilung. Ich bleibe hart. Hartherzig. Und es fühlt sich so unendlich mies an.

Beide Seiten der Schuld und Vergebung stecken in dieser einen Person des Verwalters. Beide Seiten der Schuld und Vergebung stecken in jeder und jedem von uns. Und damit auch die große Bandbreite an inneren Bildern von Personen und Situationen, in denen wir Schuld auf uns laden. Oder um Vergebung ringen. In der Vergebung geschieht. Oder eben auch nicht. Und dazu die volle Bandbreite unserer Gefühle vom flauen Gefühl eines Knotens mitten in mir drin bis zur unendlichen Dankbarkeit, die mich ganz leicht werden lässt.

Für all das bräuchten wir keine biblischen Geschichten oder gar einen Gottesdienst wie diesen, in dem wir uns so viel Zeit nehmen, über Schuld und Vergebung nachzudenken. All das sind doch Themen, die unser Miteinander auch ganz ohne christlichen Glauben prägen, oder? Das sind menschliche, allzu menschliche Erfahrungen, die jede und jeder von uns im Leben sammelt. An denen wir im besten Falle wachsen oder im schlimmsten Falle zerbrechen können. Schuld und Vergebung sind prägende Erlebnisse, mit denen wir alle schon als Kinder in Berührung kommen, ohne die es kein Miteinander als Menschen gibt.

Und doch oder gerade deswegen haben wir Christinnen und Christen die Vergebung zu einem unserer zentralen Glaubensthemen gemacht. Wir glauben an Gott, an Jesus Christus, an die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, …Und diese eine zwischenmenschliche Erfahrung schafft es ins Glaubensbekenntnis, schon vor vielen hundert Jahren: Wir glauben an Vergebung. Weil es eben ein allzu menschliches Thema ist, bei dem unser Glaube etwas verändert. Wenn ich mich schuldig fühle, bekommt die Sache eine Wendung, weil ich glaube. Dafür bin ich unendlich dankbar.

Und dafür möchte ich mit Ihnen noch einen Schritt weitergehen. Aber lasst uns den Verwalter mitnehmen, wir brauchen ihn noch.

 

IV

Ich denke daran, dass uns Christenmenschen weltweit auch ein Gebetverbindet, schon über Jahrhunderte hinweg, ganz gleich, aus welcher Kultur oder Tradition wir kommen. Ich bete es oft. In ganz unterschiedlichen Zusammenhängen: gleich hier im Gottesdienst, mit allen, die hier sind oder zuhören. Bei einer Beerdigung, mit den Trauernden. Im Schulgottesdienst, mit den munteren Kindern aus der Grundschule. Am Ende einer Sitzung, mit müden Ehrenamtlichen aus der Kirchengemeinde. In einem Moment der Stille, ganz allein mit mir.

Immer wieder bete ich das Vater Unser, das Gottes Sohn Jesus Christus damals seinen Leuten beigebracht hat zu beten. Und heute habe ich besonders diese eine Bitte vor Augen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wie gern würde ich diese Doppelbitte dem Verwalter ins Ohr flüstern, denn er scheint ja davon so gar nichts zu wissen. Bei ihm ist ja nach der ersten Hälfte Schluss: „Vergib uns unsere Schuld“. Punkt. Dabei ist doch die zweite Hälfte noch wichtiger, weil schwieriger: „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Für mich ist das Vaterunser ein Schatz! Ich finde es befreiend, dass ich mich als Christin in diese Gebetstradition hineinstellen kann. Dass ich unseren Gott damit ansprechen darf, der sich all meine Gebete, mal gemurmelt, mal flehentlich, mal dankbar, mal verzweifelt, geduldig anhört. So darf ich Gott auch immer wieder bitten: Lass mich Vergebung erfahren und lass mich vergeben können! 

Wenn ich nun mit diesen alten Texten bekenne „Ich glaube an die Vergebung der Schuld“ oder wenn ich bete „vergib mir, wie auch ich vegebe“, dann ist es ja nicht so, als würde diese Sache mit Schuld und Vergebung einfach aus der Welt gezaubert. Das wäre zu schön, um wahr zu sein!

Ich empfinde es oft so: Manch eine Situation kann ich nicht allein lösen. Dann fehlt mir dazu vielleicht die nötige Herzensweite. Oder die Verletzung, die ich erlitten habe, ist zu groß, als dass sie schnell heilen könnte. Aber ich kann meinen Gott darum bitten, dass er sich erst einmal meine oft wirren Gedanken anhört. Dass ich sie vielleicht besser ordnen kann, wenn ich mich im Gebet mit Gott auseinandersetze. Und dann kann ich spüren, wie gut es tut, damit nicht allein zu sein.

Mit meinem Gott habe ich nämlich einen Ansprechpartner, der aufgrund seiner Erfahrungen mit seinen Menschenkindern genau weiß, was es heißt, zu vergeben. Er hat uns in seiner Barmherzigkeit die größte Form der Vergebung selbst geschenkt: In seinem Sohn Jesus Christus hat Gott stellvertretend für uns Menschen alle Schuld auf sich genommen. So wie der König in der Geschichte vom Verwalter. Er erlässt die Schulden komplett. Wir müssen nichts mehr bezahlen. Gott selbst steht ein für jeden noch so großen Schuldenberg. Dafür gibt er seinen Sohn. Das Ganze hat eine sehr profane, menschliche Seite: Die römischen Machthaber damals in Jerusalem haben diesen Jesus von Nazareth wie einen Verbrecher ans Kreuz genagelt. Der Mensch Jesus deutet schon an, was das einmal bedeuten wird. Sterbend am Kreuz soll er gesagt haben: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Alles, was an Karfreitag geschehen ist, deutet die biblische Überlieferung später so: Dieser Mensch Jesus war Gottes Sohn, und mit seinem Tod nimmt Gott alles auf sich, was uns Menschen von Gott trennt: jede Schuld, jede Strafe, jeden Ausgleich, den es eigentlich geben müsste, Gott nimmt es auf die eigene Kappe.

So hat Gott vergeben. Ein für alle Mal hat er unsere Schuld vergeben, unsere Schulden erlassen. Wir können uns wieder aufrichten und neu anfangen. Wie der Verwalter im Gleichnis. Gott macht Vergebung möglich. Und Gott zeigt, wie Vergebung auch zwischen uns Menschen geschehen kann.

Ich bin nicht Gott. Ich kann mich nur an Gott orientieren. An seinem vorbildlichen Handeln. Mal gelingt das mit der Vergebung, mal nicht. Meine Erfahrung ist: Wenn ich vergeben kann, ist das eine große Erleichterung, eine echte Befreiung. Und zwar für mich! Es ist ja so: Wenn da jemand etwas getan hat, was mich verletzt hat, dann kann mich das ziemlich lange beschäftigen. Es steht zwischen uns, wir können uns nicht mehr gut in die Augen sehen. Und wir können die Uhr nicht zurückdrehen, er oder sie kann es auch nicht wirklich wieder gut machen. Aber ich kann vergeben. Ich kann die ganze Sache loslassen. Was dann passiert, ist offen. Vielleicht trennen sich unsere Wege, vielleicht kommen wir neu zusammen. Aber etwas bleibt: Kein flaues Gefühl im Bauch, kein innerer Knoten, sondern einfach nur Erleichterung!

Ganz gleich, um was es geht, und ganz gleich, wie es ausgeht, eines ist nicht zu unterschätzen: Ich darf mir sicher sein, dass Gott mich begleitet. Ich darf mein Bitten um Vergebung und meinen Glauben an Vergebung vor Gott bringen. Was für ein Geschenk!

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.