Foto: Arnd Hoffmann
Rundfunk-Gottesdienst aus Hamburg
Übertragung aus dem Andere Zeiten-Haus in Hamburg
24.12.2023 16:05
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Predigt zum Nachlesen:

Lesung Lukas 2, 1-6

Wir hören die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium:

1 Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. 2 Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. 3 Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. 4 Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, 5 auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. 6 Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.

Heute muss man nicht mehr in seine Geburtsstadt reisen wie Maria und Josef, um sich in Steuerlisten eintragen zu lassen. Heute kommt die Steuerliste zu einem: Einer der ersten Briefe, die ins Haus flattern, wenn ein Kind geboren und beim Standesamt gemeldet wird, enthält die Steueridentifikationsnummer vom Bundesamt für Finanzen. Sie gilt ein Leben lang und dient der Identifikation zu Steuerzwecken. Also gut abheften!

Der neugeborene Mensch wird mit einer Nummer versehen. Und unausgesprochen bekommt man damit doch irgendwie auch eine gesellschaftliche Erwartung mit in die Wiege gelegt: wenn du groß bist, sollst du ein rechtschaffener Steuerzahler werden.

Wir werden ein Leben lang mit so vielen unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert. Oft werden sie uns im Elternhaus, in der Familie, übergestülpt. „Werd` doch Lehrerin“, habe ich zum Beispiel nicht nur einmal von meiner Mutter gehört. Vieles bleibt unausgesprochen, anderes gilt kollektiv. Einige Erwartungen sind heute vielleicht überholt, haben aber doch viele Erwachsene geprägt: lieb und nett als Mädchen zu sein oder wahlweise tapfer und hart als Junge, eigene Ängste oder seelische Nöte nicht auszudrücken, sondern für sich zu behalten. Als Mutter berufstätig zu sein. Oder als Mutter bloß nicht berufstätig zu sein. Einem Schönheitsideal zu entsprechen oder erfolgreich im Beruf zu sein.

Doch das alles geht so weit an mir als Person vorbei, das hat mit mir und meinem Dasein nichts zu tun. Ich habe zwar eine Steueridentifikationsnummer, aber ich bin keine Nummer! Ich will kein Rädchen sein, das immer funktionieren muss, weil sonst die Maschine stillsteht. Keine Frau, die allen Erwartungen von außen gerecht wird – aber dabei selbst unter die Räder kommt.

Ich hatte das eine ganze Weile versucht – auch weil ich dachte, dass das nun mal so sein muss. Doch dabei habe ich mich selbst und das, was mich ausmacht, völlig aus den Augen verloren. Es hat lange gedauert und mich viel Ehrlichkeit und Tränen gekostet, wiederzufinden, was ich eigentlich fühle und wer ich eigentlich bin.

Ich sehne mich danach, so sein zu dürfen, wie ich bin. Ich sehne mich danach, angenommen zu sein, ohne leisten zu müssen. Ich sehne mich nach einem wohlwollenden, liebevollen Blick auf mich, der sagt: Du bist genug. Und ich sehne mich danach, dass wir in unserer Gesellschaft so miteinander umgehen.

Niemand soll mich abschätzen – bewerten - abwerten.

Ich bin genug.

 

Lesung Lukas 2, 7-11

Ich lese weiter aus der Weihnachtsgeschichte im Lukasevangelium:

Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. 8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10 Und der Engel sprach zu ihnen:

Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

Ja, das wäre es jetzt in diesen Zeiten: Klarheit! Das wäre großartig.

Von mir aus auch die Klarheit des Herrn. Nur eben vor allem: Klarheit!

Nicht der Glanz des Herrn, nicht die Herrlichkeit. Sondern die Klarheit. Die vermisse ich besonders in diesen unsicheren Zeiten. In diesen dunklen Zeiten.

Denn es ist Nacht geworden da draußen. Wieder mal.

Durch die Dunkelheit höre ich es: Immer lauter trampeln Hass und Gewalt das Leben nieder, immer dreister grölen Dummheit und Fanatismus ihre Strophen, immer verwirrender sind die Signale und Informationen, die Bilder und Nachrichten, die auf mich einströmen. Manchmal von ganz nah, manchmal von weiter weg.

Kriege und Katastrophen, Krankheit und kalte Herzen lauern da draußen in der Nacht. Und ich, ein überfordertes Menschlein, muss mich und die meinen schützen, bin der abgestumpfte Hirte meines Lebens, der kleine Hüter meiner großen Pläne in einer verrückt gewordenen Welt. Aber warum „verrückt gewordenen“? Vielleicht war sie das für die Generationen vor uns auch schon immer: verrückt!

Kommt da noch was? Was anderes? Was ganz anderes?

Wachsam muss ich bleiben, auf der Hut sein. Mich nicht überraschen lassen. Sondern absichern, Vorsorge treffen, mich rüsten. Gegen die Grauen der Nacht, gegen die anscheinend undurchdringliche Dunkelheit. Bis sie mich einholt.

Nur weil vorher noch Zeit ist, weil jetzt noch Zeit ist, ein Gedankenexperiment – was, wenn sie käme, die Klarheit, mitten in die Dunkelheit, mitten in die Nacht dieser Welt – was dann? Würde ich mich fürchten? Ja natürlich würde ich mich fürchten. Wir alle würden uns fürchten. Zurecht.

Müsste uns also ein Engel erklären „Fürchtet euch nicht“? Ja natürlich. Unbedingt.

Was die Engel damals gesagt und gesungen haben, klingt weiter in dem schwedischen Pilgerlied „Psalm“ von Fjarill.

 

Lesung Lukas 2, 12-15

Mikro 3 (Susanne Richter):

Und der Engel des Herrn sprach weiter zu den Hirten:

Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander:

Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.

Ich bin schon oft aufgebrochen: in ein Studium, in andere Wohnorte, in Jobs, habe eine Familie gegründet. Habe neue, mir bisher unbekannte Wege eingeschlagen. Manchmal allein, manchmal gemeinsam mit anderen.

Ich habe mich mitreißen lassen zu einem Aufbruch, ohne genau zu wissen, was mich erwartet.

Auch heute noch breche ich manchmal auf, bin neugierig auf das Neue, Ungewisse. Aber mit den Jahren sind die Aufbrüche kleiner geworden. Ich habe mich eingerichtet in meinem Leben. Habe mich breit gemacht in meinem Wohlstand. Und viele andere um mich herum haben das auch.

Natürlich bin ich in Sorge. Wegen der Zerstörung der Erde. Wegen der Kriege, der weltpolitischen Lage. Wegen der zunehmenden Kälte in der Gesellschaft. Natürlich fühle ich mich ohnmächtig. Glücklicherweise bin ich nicht gezwungen aufzubrechen. Ich muss nicht flüchten vor Krieg, Hunger und Gewalt. Ich habe, was ich brauche. Dafür bin ich dankbar.

Den Hirten ging es da in mancher Hinsicht ähnlich, glaube ich. Die hatten auch Angst: vor Wölfen, die ihre Schafe reißen könnten, vor den Menschen, die die Hirten an den Rand der Gesellschaft drängten, vor Armut, der Grausamkeit und Willkür des König Herodes. Aber auch sie hatten sich in gewisser Weise eingerichtet und arrangiert mit ihrem Leben. Hatten ihre Aufgabe, ihre Orte, ihren Tagesablauf, ihre Gemeinschaft, die ihnen zumindest ein Stück Sicherheit gab.

Trotzdem sind sie losgegangen in jener Nacht. Weil ihnen etwas am Himmel erschien, das so viel Kraft und Energie ausstrahlte, dass ihnen keine Wahl blieb. Dass sie aufbrechen mussten, weil sie überwältigt waren. Die himmlischen Heerscharen hatten sie in ihren Bann gezogen. Sie mussten einfach sehen, was passiert war.

Ich sehne mich nach solcher Kraft und Energie zum Aufbruch. Sehne mich danach, dass mir jemand sagt: Brich auf! Du schaffst das! Es gibt Hoffnung und Zuversicht und pure Freude! Das musst du sehen! Du bist nicht ohnmächtig, du kannst etwas tun.

Ich sehne mich danach, mich nicht in Furcht zu verstricken, sondern mutig aufzubrechen – für mich und andere.

 

Lesung Lukas 2, 16-19

Von den Hirten heißt es in der biblischen Geschichte weiter:

16 Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. 17 Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. 18 Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. 19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. 20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

Wow – was für ein Happy End. Die Hirten haben sich tatsächlich getraut. Sie sind aufgebrochen, raus aus der Komfortzone.

Und sie finden in diesem Stall wirklich all das, wonach sie sich gesehnt haben. Da liegt ein Gott vor ihnen, der Mensch geworden ist! Was muss das für ein Gefühl sein!  

Aber wo ist diese Krippe jetzt, an meinem Heiligabend, hier in Deutschland? An dem noch so viel zu tun ist. Das Essen muss gekocht werden.

Ich will noch schnell das Waschbecken putzen, bevor die Gäste kommen. Die letzte Wäsche wegräumen. Und ob wir dann alle harmonisch unterm Weihnachtsbaum sitzen werden, ist auch fraglich. Wird es wieder schmerzende Momente geben? Alte Konflikte, die erneut aufbrechen? Wie geht es gerade meiner Freundin, die heute allein sein möchte, obwohl ihr Mann erst vor drei Monaten gestorben ist? Und es wird auch heute Nachrichten geben, deren Bilder mich mitten ins Herz treffen. Menschen, die leiden. Menschen, die sterben. Auch wenn Heiligabend ist.

Ich habe Sehnsucht nach einem Gott, der sich mir zeigt. Mitten in meiner Welt. Und am liebsten würde ich heute auch zu so einer Krippe gehen und das Kind sehen. Den lebenden Beweis des Gottes, der mir sagt: Halte fest an deiner Hoffnung. Geh weiter auf deinem ganz eigenen Weg. Ich werde deine Dunkelheit hell machen. 

Aber vielleicht muss ich das gar nicht. Leibhaftig an so einer Krippe stehen. Die Hirten sind ja auch wieder gegangen. Sie haben überall erzählt, was sie gesehen haben. Und vielleicht ist es das: Sie haben ihre Sehnsucht wieder mitgenommen. Ihre Sehnsucht danach, zu erleben, was mit ihnen passiert, immer wieder neu passiert. Die Sehnsucht danach, wie es wohl ist, Schafe zu hüten - mit einem lebendigen Gott im Rücken.

Der Kirchenlehrer Augustin hat gesagt: „Homo desiderium Dei“. Dieser Satz lässt sich auf zwei

Arten ins Deutsche übersetzen: „Der Mensch ist Sehnsucht nach Gott“. Klar, das ist die Sehnsucht, die ich auch spüre. Zu wissen, dass mein Glauben Fundament hat. Dass Gott mir wirklich nahe ist. Aber der Satz von Augustin lässt sich auch anders übersetzen: „Die Sehnsucht Gottes ist der Mensch.“ Ich bin also Gottes Sehnsucht! Und das ist für mich ein Bild, das ich mitnehme. In diesen Heiligabend und darüber hinaus: Gott sehnt sich genauso nach mir, wie ich mich nach ihm.

Vielleicht sind die Hirten auch deswegen wieder gegangen: Weil sie gespürt haben, dass sie durch diese Sehnsucht fest mit Gott verbunden sind. Sie müssen gar nicht weiter an der Krippe stehen. Sie dürfen in ihr eigenes Leben zurückkehren mit dem Wissen: Das Band zwischen ihnen und Gott ist so stark. Es ist das Band der Sehnsucht nacheinander. Und immer, wenn sie sehnsüchtig sind, sehnt sich Gott genauso nach ihnen. Auf der Schafweide. Im Gespräch mit anderen. Beim Kochen. Beim Waschbeckenputzen. Beim gemeinsamen Weinen, Lachen, Streiten. Am Heiligabend genauso wie mitten im Alltag, Montagmorgen um acht. Eben mitten im Leben.

Amen

Es gilt das gesprochene Wort.

Kontakt zur Sendung

Radiopastorin Susanne Richter
Evang. Rundfunkreferat der norddeutschen Kirchen e.V
Redaktion Hamburg
Wolffsonweg 4  
22297 Hamburg

Telefon:  040 51 48 09-19
E-Mail:   richter@err.de

 

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