Drei Finger
mit Pfarrerin Annette Behnken aus Loccum
27.01.2024 23:10

Ich bin als Pastorin und Christin für eine andere Kirche angetreten. Eine Kirche, die ihrem Auftrag vom Evangelium her gerecht wird, Menschen zu schützen. Zufluchtsort zu sein. Wo wir sicher und geborgen sein, uns öffnen und anvertrauen können. Ein Ort, an dem ich nicht kämpfen muss, um gehört und gesehen zu werden. An dem ich Solidarität und Segen erfahre. Das ist mir heilig.

All das wurde verraten. Mit jedem Menschen, der in kirchlichem Kontext Missbrauch und sexualisierte Gewalt erleiden musste. Mit allem, was Missbrauch ermöglicht, Personen, Strukturen und Netzwerke. Macht. Angst. Bequemlichkeit. Mit jedem Fall, der verschwiegen, vertuscht, bagatellisiert wurde.

Die Täter: Fast nur Männer, meist Ende dreißig und verheiratet. Pfarrer, Mitarbeitende, die ihr Amt, ihre Rolle ausnutzten. Menschen, meist Kinder und Jugendliche verwundet haben an Leib und Seele, oft für ihr ganzes Leben.

Und häufig konnten die Täter immer weiter machen. Weil die, die was wussten, geschwiegen haben. Weil Vorgesetzte sie "strafversetzt" haben, in andere Gemeinden, wo sie weitergemacht haben. Weil viele was geahnt, aber nur wenige was gesagt haben. Weil den Betroffenen nicht geglaubt wurde. Bis zu sieben Mal müssen Betroffene sexualisierter Gewalt ihre Geschichte erzählen, bis sie auf jemanden treffen, der ihnen glaubt.

So wie sie, von der mir gerade erst erzählt wurde:

Es hat lange gedauert, bis sie darüber sprechen konnte, was damals war. Als sie sechzehn oder siebzehn war. Er war väterliche Vertrauensperson für sie. Pastor in der evangelischen Kirchengemeinde. Als sie von ihm schwanger wurde, sorgte er dafür, dass sie das Kind abtrieb und beendete den Kontakt. Für sie folgte der emotionale Absturz. Und lebenslang immer wieder das Gefühl von Scham. Nichts wert zu sein. Nicht vertrauen zu können.

Der Kollege hat seine Macht missbraucht. Und ihr Vertrauen missbraucht. Und sonntags dann wieder auf der Kanzel gestanden und gepredigt. Zur Verantwortung wurde er nie gezogen. Ein Fall von vermutlich Tausenden, die nie gemeldet wurden.  Die Spitze der Spitze des Eisberges, sagen die Forscher.

All das kostet meine Kirche eine Menge Vertrauen und viele Kirchenmitglieder. Das ist kein Grund zu jammern. Ich kann es so gut verstehen. Die Wut, die Enttäuschung, den Vertrauensverlust. Es wird eine Menge Geld kosten. Zu Recht. Die Zahlungen nehmen niemandem den Schmerz, aber sie erkennen das Leid an – und das kann und darf nicht billig sein. Wer moralisch so kurz vorm Bankrott steht, sollte vor dem finanziellen keine Angst haben.

Meine Kirche wird die Prävention verbessern müssen. Und dafür sorgen, dass ein Null-Toleranz-Maßstab gilt.

Und weiter aufarbeiten, was war und wie es dazu kommen konnte. Nicht allein, sondern mit Hilfe unabhängiger Profis: Wer sind die Täter und wer sind die, die sie nicht verfolgt haben und sie weitermachen ließen. Betroffene haben ein Recht auf die Wahrheit und auf Gerechtigkeit.

Und: Betroffene können und sollen sich unbedingt weiter melden, damit das ganze Ausmaß deutlich wird. Zum Beispiel auf der Internetseite "anlaufstelle.help".

Wir fangen gerade erst an und müssen weitermachen und nicht aufhören, unsere Schuld anzuerkennen und aus ihr zu lernen.

Sendeort und Mitwirkende

Norddeutscher Rundfunk (NDR)

Redaktion: Sabine Pinkenburg