Morgenandacht
Flüchtlinge begleiten – Frieden entdecken
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29.06.2015 06:35

Es ist ein ganz normaler Spaziergang am Nachmittag. Wie öfter. Wir schlendern durch den Park. Das tun wir gern. Immer sieht der Park anders aus. Im Wechsel der Jahreszeiten, im Wechsel des Lichtes. Immer schön.

Aber diesmal fange ich an, den Park anders zu sehen. Mit anderen Augen. Denn wir gehen die bekannte Strecke mit unseren tschetschenischen Freunden. Sie sind geflohen vor dem Krieg. Erst nach Inguschetien, dann wieder zurück in ihre Heimat, um festzustellen, dass nichts mehr da ist, dass sie enteignet wurden, kein Haus mehr, keine Arbeit und keine Zukunft. Die Familie: kaputt.

 

Nun sind sie hier. Seit zwei Jahren. Trauen sich kaum aus dem Haus. Unsere schönen Parks kennen sie nicht. Waren noch nicht da. Von allein gehen sie nicht los. Draußensein scheint gefährlich, zumal für Frauen. So empfinden sie es. Der Krieg steckt ihnen in den Knochen.

 

Nun schlendern wir entspannt an der Ilm entlang. Sehen die wunderbaren alten Bäume. Goethe hat sie inszeniert, mit Bedacht gruppiert. Die Vögel zwitschern, es duftet nach frisch gemähtem Gras. Sie atmet tief durch, wie nach einer langen Krankheit. „Es ist ein Paradies“, sagt sie. Auf tschetschenisch. Die Tochter übersetzt. Sie läuft von einem Baum zum nächsten Strauch, freut sich an jedem blühenden Busch. „Ach“, seufzt sie immer wieder. „Otschen krasivoi“. Wunderschön. Soweit verstehe ich es noch. Sie spricht nur wenige Worte deutsch. Aber wie alle Tschetschenen: russisch. Mein russisch ist fast nicht mehr vorhanden. Nur einige wenige Worte sind mir geblieben. Wir reden mit Händen und Füßen.

 

„Domoi“ ist ein wichtiges Wort. Sie erzählt von Zuhause. Von Babuschka und Djewuschka, den Großeltern, von der Familie, als sie noch heil war. Sie redet vom Haus und wie es von einer Bombe getroffen wurde.

 

Wir gehen ans Wasser. Dahin, wo es flach ist. Schuhe aus und hinein. Unsere Kinder finden es klasse und planschen und quietschen. Es ist eine schöne Abkühlung. Sie kann nicht hinein. Hat Angst. Erzählt von der Flucht. Dass sie zwei Tage durch ein Wasser waten mussten, zum Teil bis zum Hals im eiskalten Gewässer. Wie die Papiere aufweichten, die wichtigen Dokumente. Wie sie hinterher ein schweres Nierenleiden hatte und keine Medikamente.

 

Wir machen ein Picknick. Die Sonne scheint, es ist wunderschön. „Wie im Himmel“, sagt sie immer wieder und seufzt. Jedes schöne Detail löst einen Schmerz. Und dann erzählt sie und erzählt. Ich höre zu, auch wenn ich fast nichts verstehen kann. Der Damm ist gebrochen. Der Schmerz findet seinen Weg. Die Tränen fließen.

 

Es ist gut, so zu sitzen. Die Kinder spielen.

 

Wir packen ein und schlendern weiter. So schön ist der Park. Und die Kräuter auf der Wiese. Schau hier, Mama! Schau da, mein Kind! Ja, so ist Frieden. Das ist Frieden hier. Wozu dieser Krieg, fragt sie immer wieder, seufzt und legt die Hand aufs Herz, dass es ihr nicht zerspringt. Frieden. Ich schaue mir die Bäume an, den Fluss, er fließt ruhig.

 

Ist das selbstverständlich? Wir haben hier keine Bomben, die Häuser und Herzen zerstören. Wir baden im kalten Wasser gern die Füße und müssen nicht an ein rettendes Ufer fliehen. Wir haben Ruhe, und können entspannen. Welche Logik ist das, die mich prädestiniert, in Frieden zu leben? Und Lala, die tschetschenische Frau, diesen Frieden nur leihweise zu erleben? Im Frieden gerade einmal so geduldet zu sein?

 

Ich atme ebenfalls tief durch. Meine Schritte werden langsamer. Ich schaue mir die alte Weide an, ihre Zweige hängen bis ins Wasser. Ich freue mich am Jasmin. Die Kinder laufen und spielen. Es ist Frieden, Lala, hier ist Frieden. Du darfst atmen. Du darfst sein. Du darfst auf die Wiese. Darfst barfuss laufen. Wir dürfen lachen.

 

Was für eine schöne Aufgabe ist das, Frieden verkünden zu dürfen, denke ich. Und was für ein Geschenk, diesen Frieden auch zu sehen. An einem Sommernachmittag.