Predigt zum Nachlesen
Liebe Gemeinde hier in der Justizvollzugsanstalt und an den Rundfunkgeräten,
wir kennen das: Da will sich jemand einen Namen machen, will groß rauskommen. Alleine oder gemeinsam mit der Familie, mit Freunden, Kollegen oder halt einer ganzen Bande, einer Gang. Da wird geplant, beraten, kontrolliert. Manchmal auch spontan gehandelt. Man fühlt sich mächtig und unendlich stark. Die Pläne scheinen fehlerfrei, die Idee überwältigend. Schon mit Händen zu greifen sind die Erfolge, die Triumphe. Oder der Bruch ist verheißungsvoll, der Deal verspricht eine Menge Geld.
Wir kennen das – und Sie, die Sie hier einsitzen, wahrscheinlich am besten. Vergessen sind sämtliche Grenzen. Der Turm des persönlichen oder gemeinsamen Größenwahns wird immer größer. Anstand, Bescheidenheit und Rücksicht ade. Eins kommt zum andern. Dann kracht alles in sich zusammen. Wer sich schon in schwindelerregenden Höhen glaubte, tut einen tiefen Fall. Obwohl einem alles möglich? schien, ertönt ein deutliches ´Nein´ zu allen hochtrabenden gesellschaftlichen oder auch kriminellen Vorhaben.
Man wird erwischt, verpfiffen oder stellt sich selber, weil es nicht mehr anders geht. Der todsichere Plan ist mehr tödlich als sicher. Die Familie bricht auseinander, die Partnerin geht, weil die gemeinsame Zukunft in der JVA scheinbar keine Zukunft hat. Statt reich und schuldenfrei ist man arm wie eine Kirchenmaus, hat alles verloren, was man besaß. In den seltensten Fällen kommt einer aus dem Knast und gräbt unbeobachtet im Wald versteckte Millionen aus. Das gibt´s eher nur im Film.
Draußen, außerhalb der Gefängnismauern gibt es im Grunde ähnliche Erfahrungen: Den Oscar für den besten Film kriegt eine andere, obwohl man schon siegessicher Interviews gegeben hat. Der als selbstverständlich betrachtete erste Tabellenplatz geht verloren. Lange hat man im kleinen Kreis gemauschelt – zum Schluss bekommt man den angestrebten Posten nicht. So oft ein Turm in grandioser Selbstüberschätzung gebaut wird, so oft bricht er in sich zusammen.
Sicher wie das Amen in der Kirche fliegen einem irgendwann die Trümmer um die Ohren. „Es ging doch alles gut, warum ging es denn schief“ heißt der Titel eines Buches über das Scheitern von Beziehungen. Ja – warum ging´s denn schief, fragen sich viele Menschen. Bei Straftaten ist das nicht leicht zu kapieren. Und wer ohne größere Vergehen durchs Leben gekommen sind, für den oder die gibt es ähnlich die Erfahrung, dass trotz bestem Wollen alles daneben geht.
Eheleute verstehen nicht mehr, was der andere will. Eltern versuchen vergeblich, einen Zugang zur Sprache ihrer Kinder zu bekommen – sie haben keine Ahnung, was in ihnen vor sich geht. Leute treffen sich auf der Straße, auf dem Gefängnisgang und es bleibt beim oberflächlichen Small-Talk, der nur ein Gefühl der Leere zurücklässt. Man begreift Gott und die Welt nicht mehr – und sich selbst am allerwenigsten. Geistreiches Denken, Reden und Handeln wird zum Problem – genauso wie ein wirkliches Verstehen.
Manchmal denke ich, der liebe Gott ist beim Turmbau zu Babel so dreingefahren, dass wir bis zum Ende aller Zeiten Mühe haben, zu verstehen und verstanden zu werden. Hier in der Justizvollzugsanstalt sind 77 Nationen. Kommunikation ist allein dadurch schon schwierig. Der Afghane trifft auf den Italiener, dann mischen sich womöglich der Schwabe und ein Russlanddeutscher ein. Banker begegnet Tätowierer, Musiker bringt Drogendealer das Singen bei. Im Chor meine ich. Heute finden Angehörige verschiedener Nationen und Religionen eine gemeinsame musikalische Sprache.
Dazu kommt, dass Bedienstete, Therapeuten, Seelsorger und Gefangene sich miteinander verständigen müssen – über das, was es an Anstand auch im Gefängnis braucht, an gegenseitigem Respekt, an Grenzen, die im Umgang miteinander unbedingt einzuhalten sind. Sie müssen sich verständigen darüber, was es an Chancen und Freiheit für einen braucht, auch wenn er verurteilter Straftäter ist. Selbst wenn wir die gleiche Sprache sprechen, bleibt manchmal völlig unklar, was wir selbst und andere wollen.
Es gibt in jeder Sprache hundert Arten, sich auszudrücken, und in jeder Sprache immer wieder Missverständnisse, obwohl der Wortlaut eigentlich klar ist. Und was ist dann Pfingsten? Die Jünger Jesu, alles Juden ohne besondere Ausbildung, stellen sich an Pfingsten hin, reden in ihrer aramäischen Muttersprache und werden von einem internationalen Publikum bestens verstanden. Für uns, in unserem hochtechnisierten Zeitalter ist das nicht so sensationell.
Auf internationalen Konferenzen gibt es Simultandolmetscher, man kann Kommunikation studieren auf den Universitäten. Smartphones sind für Sie in der JVA verboten. Würde ich in meinem Umfeld auch gerne ab und zu mal machen… Aber ein Telefonat mit der Liebsten, den Kindern, dem Anwalt – das ist der lebenswichtige Draht nach draußen. Zwischenmenschliche Verständigung ist trotzdem keine Selbstverständlichkeit geworden. Die Sehnsucht nach Pfingsten, nach Verstehen und Verstandenwerden ist riesig.
Schauen wir die Erzählungen vom Turmbau zu Babel, von Größenwahn und Sprachverwirrung und die von Pfingsten, der geistreichen Verständigung noch aus einem anderen Blickwinkel an. Alle in Babel waren einer Meinung – der Turm muss her. Wenn eine Gruppe oder Masse von Menschen den gleichen Plan, die gleiche Ideologie hat, ist das nicht immer gut. Das kann, wie wir aus der Geschichte vieler Völker wissen, zu einer bewusstlosen Uniformität führen.
Zu einer vermeintlichen Grandiosität und Großkotzigkeit, die ganz und gar unmenschlich ist, weil sie den anderen, die andere aus dem Blick verliert. Viehisches Verhalten ist die Folge: Das Leben des Einzelnen und das von fremden Gruppen ist nichts mehr wert. Wenn der gemeinsame Größenwahn in Stücke fällt, wenn die Schulterschluss-Mentalität zusammenbricht, dann merkt man: “Ich unterscheide mich von anderen. Ich verstehe sie nicht.“ Das hat eine gute, eine lebenswichtige Seite.
Der Gott, der dreinfährt, ist keiner, der ängstlich um seine Macht besorgt ist. Nein, er ist einer, der dafür sorgt, dass der Gleichschritt aus dem Takt gerät. Die bis zum Exzess betriebene Unmündigkeit – wer blind und stumm einfach mitmarschiert, ist immer unmündig – geht in Trümmer. Die Geschichte vom Einsturz des Turms von Babel ist eine Geschichte, die auch davon erzählt, wie Menschen sich ihrer Individualität bewusst werden. Wie sie merken, dass sie ein eigenes „Ich“ haben, das in der Menge nicht untergehen darf und soll.
Pfingsten erzählt von dem atemberaubenden Ereignis, dass Kinder, Mädchen und Jungen, Männer und Frauen, alles einzelne Persönlichkeiten, sich dennoch verständigen und verstehen können – und dabei so faszinierend verschieden sein können und dürfen, wie sie von Gott gedacht und gemacht sind. Mich begeistert dieser Gedanke: gemeinsam denken, reden und handeln, andere fragen und sich hinterfragen lassen – und dabei nie die eigene Art, die Eigenart aufgeben müssen, die das Leben bunt macht.
Turmbau und Pfingsten sind wie zwei wichtige Phasen in der Geschichte von Verliebten. Zuerst wird nur das Gemeinsame gesehen: Er fühlt wie ich, sie mag dieselbe Musik und liest dieselben Bücher, er lacht über Witze wie sie, sie hat die gleichen Vorlieben... . Die gesamte Umwelt kriegt mit, dass die beiden eins sind. Dann kommt der erste Krach, die erste Erfahrung von Differenz. Eine Straftat, Untersuchungshaft, Verurteilung. Der Turm kracht zusammen, er muss es. Jetzt kommt´s drauf an, ob Pfingsten wird.
Ob die beiden ihr Anderssein akzeptieren, ob sie sich erwachsen begegnen und einander immer wieder zu verstehen suchen, auch wenn einer brachial gescheitert ist – und damit wirklich lieben. Turmbau zu Babel und Pfingsten: Jeder Mensch ist anders. Wir spüren auch Gegensätze in uns selbst, können uns manchmal selber nicht verstehen. Es ist ein Pfingstwunder, das immer wieder geschehen kann: Ich komme in Einklang mit mir. Ich spüre, dass der andere sich von mir unterscheidet, und finde ihn gerade deshalb anziehend.
Es ist schon schön, sich zu verstehen, nicht obwohl, sondern weil man verschieden ist. Es hilft menschlich weiter, wenn Bedienstete, wenn Therapeuten und Seelsorger, wenn wir alle miteinander Gefangene verstehen lernen. Das bedeutet mitnichten, gut zu heißen, was sie getan haben – oder es klein zu reden. Aber vielleicht können wir begreifen, erahnen, warum sie diesen verkehrten Weg eingeschlagen haben. Was sie dazu gebracht hat, Schuld auf sich zu laden und schließlich hier zu landen.
Gefangene verstehen lernen, statt sie einfach abzutun. Ich denke, nur so können wir Ihnen hier zur Seite stehen, wenn Sie sich ändern und neu anfangen wollen – in der JVA, dann irgendwann wieder draußen. Und Sie, die Gefangenen, müssen lernen, sich in die hinein zu versetzen, denen Sie etwas angetan haben. Sie müssen spüren, was Ihre Taten ausgelöst haben in anderen Menschen – dann können Sie während Ihrer Haft und nachher, in Freiheit, angemessen, gewaltfrei und liebevoll mit anderen umgehen.
Gut, dass es immer wieder Pfingsten wird, und Menschen aufeinander zugehen. Miteinander reden, auch wenn sie vom anderen bitter enttäuscht sind. Die menschliche Kommunikation ist einmalig und lebensnotwendig. Unsere vielfältigen Möglichkeiten, uns auszudrücken, sind ein Gottesgeschenk. Jeder und jede von uns kann sich mit Worten und Sprachbildern eine Welt erträumen, von ihr erzählen – ob es sie gibt oder nicht. Kinder berichten von Abenteuern, die sie in ihrer eigenen Welt erleben.
Eltern erzählen ihren Söhnen und Töchtern wunderbare Geschichten zum Einschlafen und zum Vertreiben der Angst. Liebespaare erfreuen sich an ihren zärtlichen Phantasien. Filmemacher setzen zukünftige Welten – Science Fiction – in Szene. Regisseure und Schauspieler lassen Vergangenheit und Gegenwart in ihrem Spiel lebendig werden. Es ist ein wahrer Segen, dass wir Menschen so einmalig und unterschiedlich sind, dass wir mit uns und unseren Gedanken allein sein und uns durch Worte mitteilen können.
Es ist ein Geschenk, mit unserer Sprache Nähe ausdrücken und Gemeinsamkeit betonen zu können. Genauso wichtig ist es, wenn wir mit unseren Sätzen den nötigen Abstand zu anderen wahren und unsere Differenzen mit Gott und der Welt formulieren. Das ist Pfingstglaube: Hart an der Wirklichkeit zu bleiben, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren – aber auch immer den Himmel im Blick zu behalten, notfalls durch Gitter. Hoffen, dass er die Verbindung zu uns, zu Ihnen immer lebendig erhält. Amen.