Schmetterling
Gemeinfrei via pixabay.com (Dae Jeung Kim)
Was nicht ist, aber sein könnte
Vom Möglichkeitssinn
15.04.2018 07:05
Sendung nachlesen:

Manchmal tauchst du auf. Aus dem Nichts. Ich nenne dich Gott. Ich rechne nicht mit dir, das Rechnen habe ich aufgegeben. Du bist ein Gleichnis mit zu vielen Unbekannten. Du meldest dich nie an. Verabredungen sind nicht deine Sache. Ich habe keine Chance, einen Kuchen zu backen oder die Küche zu putzen oder mein Leben in Ordnung zu bringen. Du tauchst auf und ehe ich dich fassen kann, bist du wieder weg.

Du erklärst dich auch nicht. Das hat mich lange gestört. Ich fand, wenn du schon willst, dass ich an dich glaube, dann könntest du dir mehr Mühe geben, dein Tun und dein Nicht-Tun etwas nach- vollziehbarer zu machen. Du bist ein Rätsel – nein, eher ein Geheimnis. Ein Rätsel kann man lö- sen, wenn man nur lang genug nachdenkt. Dich kann man nicht lösen. Allerdings verlangst du das auch nicht.

Auf eine Art verstehe ich dich. Ich mag es auch nicht, mich rechtfertigen zu müssen. Du wärst wahrscheinlich ständig damit beschäftigt, dich zu erklären. Irgendwer findet immer irgendwas ungerecht. Man kennt das ja: Die einen finden dich zu lax, die anderen zu streng und ein paar wollen wissen, warum du einen Bart trägst. Nur als Beispiel. Und deshalb denke ich mittlerweile: Wir sind quitt. Du brauchst dich nicht zu erklären, ich nehme dich, wie du bist. Denn das habe ich von dir gelernt. Du nimmst mich, wie ich bin. Damit meine ich kein trotziges „Ich will so bleiben, wie ich bin“. Weil ja auf einmal jede Schrulle Ausdruck von Authentizität ist, und sei sie noch so unhöflich. Nein. Ich versuche, zu werden, die ich sein kann. Das habe ich auch von dir.„Ich werde sein, der ich sein werde“, hast du mal gesagt. Wandel ist dein Programm.

Ich mag es, dass du einfach so auftauchst. Es gibt meinem Leben eine Erwartung. Hinter jeder Ecke könntest du stehen. Obwohl du genaugenommen das ja gerade nicht tust. Du bist nicht ein- deutig. Kein Engel rauscht vom Himmel herab. Ich hatte noch nie eine Vision, in der du plötzlich vor mir standest.

Ich weiß nicht, ob es Gott gibt. Aber es könnte doch sein.
Es gibt Leute, die können genau sagen, wann sie Jesus begegnet sind. Am 23. September oder am 14. März. An diesem Tag haben sie IHM ihr Leben übergeben. Ihre Augen leuchten, wenn sie davon erzählen. Sie sind sich sicher. Ein bisschen beneide ich sie, denn ich bin es nicht.
Als ich 15 oder 16 war, ging ich auf die Suche nach Gott. Es war in einem Gemeindehaus der 80er-Jahre. Ich war gekommen, weil mir das Woodstock-Feeling der Gitarren gefiel. Kerzen und Karamelltee gab es auch. Alles hatte den Anschein einer freundlichen Community. Peace and Love and Holy Ghost. Bis der Redner zum Pult ging. Er empfahl, alle Musik zu meiden, der Teufel könne sich darin verstecken. Obwohl er eigentlich ein smartes Lächeln hatte, wirkte er auf einmal sehr streng. Wirklich alle Musik?, wagte jemand nachzufragen. Was zum Beispiel mit Bach sei? Ja, bestätigte der Redner und empfahl, alle Musik zu meiden, weil man nie wisse, wo sich der Teufel verstecke. Es könnte doch sein, dass er besonders trickreich Barockmusik wählte.
Es könnte doch sein... Daran blieb ich hängen. Den Rest hörte ich nicht mehr, denn schließlich könnte es ebenso gut sein, dass Gott Queen hört. Außerdem hatte ich nicht vor, künftig auf Musik zu verzichten.

Ich ging nach Hause. Ich vergaß den ängstlichen Prediger. Der Teufel schreckte mich nicht. Sein Dasein ergab für mich keinen Sinn. Warum sollte es ein Wesen geben, dessen gesamte Existenz darin besteht, der Welt Böses zu wollen? Das Universum ist doch kein Italo-Western, bei dem der Schurke erledigt werden muss, damit das Gute siegt.

Natürlich könnte ich falsch liegen. Ich könnte mit allem falsch liegen. Aber dieses „könnte“ finde ich nicht bedrohlich. Im Gegenteil: Es öffnet ein Fenster. Alles könnte auch ganz anders sein. Leute, die allzu genau wissen, wie Gott ist und was Gott will, haben mich schon immer skeptisch gemacht. Woher wissen die das?

Ich weiß nicht, ob es Gott gibt, aber es könnte doch sein.
Das ist nicht viel, zugegeben. Fester Boden sieht anders aus. Vielleicht geht es darum, das Schweben zu lernen. Kein Wunder, dass Engel meistens mit Flügeln gemalt werden. „Ich setzte den Fuß in die Luft / und sie trug“, schrieb die Dichterin Hilde Domin. Das deutet an, was Glau- ben ist.
Ich begann, mich auf die Suche zu machen. Nicht anders als im Märchen. Da ziehen welche aus, das Glück zu finden, die Königstochter oder etwas Besseres als den Tod. Was gibt es zu verlieren? Ich wurde gemahnt: Nicht zu vergessen, was im Namen des Glaubens schon alles angerichtet wurde. Dagegen lässt sich nichts sagen. Es stimmt. Trotzdem beschlich mich der Gedanke, dass das auch eine Abwehr ist. Nicht berührt werden zu wollen von etwas, dass so unsicher ist. Und auch im Namen der Liebe wird getötet. Aber deshalb verwerfe ich doch die Liebe nicht.

Ich weiß nicht, ob es Gott gibt, aber es könnte doch sein.
Gibt es mich?
Eindeutig ja, würde ich sagen. Ich sehe meine Hand, die schreibt. Wenn ich aufschaue, spiegelt sich mein Gesicht im Fenster. Heute Morgen habe ich mit meinem Freund geskypt. Er sah mich auf seinem Bildschirm, stellte mir Fragen, auf die ich antwortete und machte eine Bemerkung über mein Haar, das ich anders trug als sonst. Und dann habe ich ja auch noch eine Geburtsur- kunde und einen Personalausweis. Ich bin offiziell in der Welt.
Das alles hat Gott nicht. Seine Existenz ist nirgendwo beglaubigt, jedenfalls nicht offiziell. Seine Botschaften bleiben im Vagen, manche hören sie, andere nicht. Eine Skypeadresse besitzt er nicht. Über sein Aussehen können wir nur spekulieren. Lange Zeit hielt sich das Bild eines Mannes mit Bart. Dann gab es eine Übergangsphase als Mutter. Mittlerweile neigt man dazu, ihn jenseits aller Bilder zu sehen. Was es auch nicht leichter macht.
In der Bibel wird sein Spiegelbild beschrieben. Das könnte ein Anhaltspunkt sein. Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild gemacht. Rückschließend hieße das, Gott könnte einem schwu- len Inuit mit Downsyndrom gleichen. Oder einer indischen Anwältin mit sieben Kindern. Auch Donald Trump wäre Gottes Spiegelbild, Mutter Theresa, Herr Kleinschmidt von nebenan, Benno Ohnesorg und Heidi Klum. Sie und ich.
Womit ich wieder bei mir bin. Wenn ich Gottes Spiegelbild bin – gibt es mich dann nur, wenn Gott existiert? 

Gibt es mich? Vielleicht nicht.

„Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling ge- träumt hat, dass er Dschuang Dschou sei.“

Vielleicht träumt ein Schmetterling, er sei Susanne. Träumt, dass diese Susanne einen Pass hat, eine Skypeverbindung und einen Freund. Ein Spiegelbild im Fenster, und dass sie manchmal schreibt, offenbar mit der rechten Hand.
Wir wissen, wie real Träume sind, solange wir träumen. Sonderbar werden sie erst nach dem Aufwachen. Der Traum ist die Wirklichkeit des Schlafs. Er kann genauso erfüllend sein, wie ein befriedigender Tag im Wachzustand – allerdings auch genauso beängstigend. Während ich träume, fühle ich mich genauso handlungs-, liebes-, und entscheidungsfähig wie im Wachzustand. Zum Alptraum kann beides werden.

Wäre es also schlimm, wenn ich gar nicht Susanne wäre, sondern ein Schmetterling, der träumt, Susanne zu sein? Mein waches Ich rebelliert, aber wir könnten das endlos weiterführen: Viel- leicht träumt ein Schmetterling davon, zu rebellieren. Möglicherweise spielt es für mich also tatsächlich keine Rolle, ob ich es bin, die gerade von einem Schmetterling redet oder ob ein Schmetterling davon träumt. Oder ob Gott ein Schmetterling ist, der die Welt träumt.

Gibt es Gott?
Möglicherweise spielt auch das keine Rolle, solange der Traum von Gott mein Leben reicher macht. Wenn ich mein Leben lang um diese Frage kreiste: Gibt es Gott oder gibt es ihn nicht? Wenn ich mein Leben lang nach einem Beweis suchte – und am Ende bekäme ich ihn: Was hätte ich gewonnen?
Ich glaube an Gott. Wie er aussieht, weiß ich nicht. Was er denkt, weiß ich nicht. Was er genau will, weiß ich nicht. Ich stehe auf wackeligem Boden. Das einzige, was ich weiß, ist, dass Men- schen auf der ganzen Welt zu allen Zeiten Erfahrungen gemacht haben, die sie Gott nennen. Ich schließe mich ihnen an.
Wer Gott sucht und nach einer Person mit Bart Ausschau hält, wird wahrscheinlich enttäuscht. In der Bibel erkennt man Gott an seiner Wirkung, nicht an seiner Gestalt.
Am Krankenbett saß nachts jemand neben mir, obwohl ich ihn nicht sah. Auf einer staubigen Straße im Nirgendwo bildete sich eine Windhose. Sie ging eine Weile vor mir her. Im Gesang von 1000 Stimmen hob mich etwas in die Höhe. Ich meinte zu schweben, mit beiden Füßen auf der Erde. Nach Stunden des Schweigens geschah etwas in mir, für das ich keine Worte habe. Ein Moment des Glücks hoch zehn. Im Scheitern, als ich mich dem Punkt Null ergab, wuchs mir eine Kraft zu, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Als mein Vater ein paar Stunden tot war, sah ich ihn in einem Sekundenschlaf in die Höhe steigen; jung und lachend, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte.

All dies kann Einbildung sein. Aber was würde das ändern?
Der Glaube an Gott kann Einbildung sein. Sicherheit gibt es nie. Damit muss man leben können. Wer Sicherheit will, braucht ein anderes Lebenskonzept. Dieses setzt auf Vertrauen. Darin steckt das Wort „trauen“, genauso, wie „Mut“ in „Zumutung“ steckt. Das sagt viel aus über das Konzept des Glaubens an Gott. Es ist eine Zumutung. Und es ist mutig.

Macht es einen Unterschied, ob ich an Gott oder an einen Schmetterling glaube?
Macht es einen Unterschied, ob ich an Gott oder meine Einbildung glaube?
Ja. Sogar einen großen. Meine Einbildung findet in den Grenzen meines Kopfes statt oder auch meines Herzens. Ich kreise in mir. Gott ist auch in mir, aber auch außerhalb von mir. Er erweitert mein Leben um eine Dimension. Ich stelle mir das vor, wie diese russischen Matruschkas. Ich sehe eine Puppe. Aber in der Puppe verbirgt sich eine weitere Puppe und wieder eine weitere. Mit jeder Öffnung kommt eine neue Dimension hinzu. Ein Spiegel im Spiegel im Spiegel. Gott und darin die Welt und in der Welt ich und in mir wieder Gott.
Ich bin aufgehoben in etwas Größerem, das mich umgibt und durchdringt. Ich gehe über mich hinaus. Es gibt mich nicht ohne die Welt und die Welt gibt es nicht ohne jedes einzelne Ich. Es gibt mich nicht ohne Gott und Gott nicht ohne mich.
Das ist Trost und Herausforderung. Ich bin nicht allein. Und ich muss klarkommen mit all den anderen. Wir hängen voneinander ab und wir hängen aneinander. Auf einmal ergeben die Zehn Gebote Sinn. Konkrete Lebensregeln für verschiedene Dimensionen: Gott und Mensch und Mit- mensch.

Ich glaube das, weil ich nicht allein sein will in dieser Welt. Gott ist Nicht-Leere, weil in der Lee- re immer noch Gott ist. Dieser Gedanke verleiht allem Sein einen Zauber. Der Blumenwiese, der verlassenen Bushaltestelle, dem unangenehmen Nachbarn, mir, Ihnen. Die Bibel nennt das „hei- lig“. Es gehört zu Gott. Was heilig ist, muss geschützt werden. Die Wespen auf der Wiese, das Warten an der Haltestelle, das sonderbare Leben des Nachbarn, das Meer, die Hoffnungslosen genauso wie die Verbitterten, der Braunbrustigel, die Eingesperrten, die Träumenden. Sie und ich.

So einfach könnte das sein.

Ich weiß nicht, ob es Gott gibt. Aber es könnte doch sein.
Was mich an dem Gedanken reizt, ist das Fenster, das geöffnet wird. In eine weitere Dimension. In eine Welt, die hinter der offensichtlichen liegt. Eine Verheißung: Mach dir kein festes Bild. Du würdest dich aller anderen Bilder berauben.
Der Schriftsteller Robert Musil nennt das den „Möglichkeitssinn“. Er sagt:

„Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt (...), dann muss es auch etwas geben, das man Möglich- keitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das gesche-hen (...); sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. Das Mögliche umfasst jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes.“

Der Möglichkeitssinn ist eine Befreiung.
Auch für Gott. Wenn wir als Gottes Spiegelbilder so etwas wie einen Möglichkeitssinn besitzen, dann muss Gott ebenso über ihn verfügen. Möglich also, dass auch Gott Dinge für möglich hält, die noch nicht sind, aber sein könnten. Vielleicht glaubt Gott daran, dass die Menschen auftau- chen, wo sie gebraucht werden. Dass sie Kriege verhindern werden, dass sie einander trösten und versöhnen. Dass irgendwann der erste sagt Soldat sagt: Leute, mir reicht’s. Ich will nichtmehr töten. Und die anderen nicken: Hast Recht, lass uns lieber Fußball spielen. Vielleicht glaubt Gott daran, dass der erste Superreiche sich zu langweilen beginnt und schulterzuckend auf seinen Deal verzichtet. Vielleicht hält Gott es immer noch für möglich, dass Eisbären und Südseeinseln und schadstofffreie Luft uns wichtiger sind als Wirtschaftswachstum. Und vielleicht glaubt er daran, dass die Kleinkriminellen innehalten und merken: Das Zeug gehört ja gar nicht uns. Vielleicht hält Gott es für möglich, dass wir uns zeigen und zueinander stehen, mutig und voller Respekt.
Möglich, dass Gott an uns glaubt.
Ich weiß es nicht, aber es könnte doch sein.

 

 

Musik dieser Sendung:

Olafur Arnalds, Living Room Songs