"Was braucht der Mensch zum Leben?"
aus der Marienkirche Stift Berg in Herford mit Pfarrerin Frauke Wagner
06.10.2024 10:05

Was nehmen Sie auf die einsame Insel mit? Das Smartphone oder doch ein Buch? Oder besser noch den Campingkocher? Was braucht der Mensch zum Leben? So fragt Pfarrerin Frauke Wagner in ihrer Predigt zum Erntedankfest. Der Deutschlandfunk überträgt diesen evangelischen Gottesdienst aus der Marienkirche Stift Berg in Herford im Radio live am Sonntag, 6. Oktober, von 10.05 bis 11.00 Uhr.

Der Gottesdienst begibt sich auf Spurensuche, wofür Menschen danken und was sie sich für ein erfülltes Leben wünschen. Jugendchor, Kantorei und Orgel gestalten die Musik. Die musikalische Leitung liegt bei Kirchenmusikdirektor Johannes Vetter und Dariia Lytvishko.

Die Marienkirche in Herford wurde 1325 in ihrer heutigen Größe erbaut. Interessierte können sie digital besuchen und in 3D erkunden: marienkirche-herford.de.

Lieder der Sendung:

1. EG 690: Auf, Seele, Gott zu loben 
2. 
EG 640:  Die Herrlichkeit des Herrn
3. EG 262, 1+ 4 -6 Sonne der Gerechtigkeit 

4. EG 184: Wir glauben Gott im höchsten Thron
5. EG 611 Der Himmel geht über allen auf

6. EG 508, Wir pflügen und wir streuen

Nach der Ausstrahlung können Sie an dieser Stelle die Predigt nachlesen.

I
Auf der einsamen Insel gestrandet? Das gibt’s ja nur im Film oder als Party-Frage-Runde: Was nimmst du mit auf die einsame Insel? In "Cast Away – Verschollen" spielt Tom Hanks die Hauptrolle des Chuck Noland, der nach einem Flugzeugabsturz auf einer kleinen Südseeinsel strandet. Ab und zu werden Pakete angeschwemmt mit allerlei unnützem Zeug. Das Flugzeug war eine Frachtmaschine. Und nun? Was braucht er vor allem? Was bräuchten Sie auf der einsamen Insel? Zunächst mal Wasser und Brot – oder eben Kokosnüsse, Beeren, selbstgefangenen Fisch, jedenfalls irgendwas zum Essen.

Erst kommt das Fressen und dann die Moral! So antwortet Bertolt Brecht. An Erntedank feiern wir das Fressen, Entschuldigung, das Essen. Feiern, dass die Ernte erfolgreich war und die Tische voll und gedeckt sind. Dass genügend da ist. Und wir feiern den Traum, dass es für alle reicht. Wie bei der biblischen Geschichte, als Jesus sieben Brote so geteilt hat, dass es für viertausend Menschen gereicht hat.

Das Erntedank-Fest. Ein Hoffnungsfunke nicht nur für die sozial Bewegten. Alle scheinen bei diesem Fest darum zu wissen, dass im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit zunächst Nahrung braucht und keine Religion als Opium. Dass es den Brotlaib und nicht nur das Stücklein Brot braucht, das zum Leben und Sterben zu wenig ist.

Das Erntedank-Fest. Ein urmenschliches Ritual. Zu allen Zeiten gab und in allen Kulturen gibt es solch ein Fest. Eine Unterbrechung der Arbeit. Feiern, dass Nahrung da ist, dass die Ernte geglückt und der Tisch reich gedeckt ist. Das Sukkot-Fest der jüdischen Gläubigen, Thanksgiving in den USA, das große Ramadan-Fasten-Brechen der Muslime, das Maisgöttinnenfest in Mexiko.

Wie sehr die tägliche Nahrung gebraucht wird, merkt man, wenn sie keine Selbstverständlichkeit ist. Wenn das Geld am Ende des Monats knapp wird. Der Regen seit Monaten ausbleibt, nichts wächst.

Wie oft denken wir im Alltag darüber nach, woher die Zutaten der Brötchen kommen? Dass das Korn für Mehl geerntet, gemahlen, verarbeitet und an der Getreidebörse gehandelt werden muss. Wer als Kind einmal im Freilichtmuseum oder Bibeldorf Mehl mit einer Steinmühle gemahlen hat, wer sich an das Schroten in Kindheitsjahren erinnert, der weiß um den aufwendigen Produktionsprozess.

Wie oft sind wir gesegnet mit vollen Brotkästen und Kühlschränken. Unser Verhältnis zum täglichen Brot, zur täglichen Nahrung ist vermutlich sehr unterschiedlich. Und je weiter wir den Fokus raus zoomen und den Blick weiten, umso verschiedenartiger wird es. Für den einen ist das tägliche Brot eine Selbstverständlichkeit. Für die andere ist das Essen eine Qual, weil sie eine Essstörung hat oder gerade eine Zeit der Trauer erlebt. Für den Dritten ist es die notwendige hochkalorische Essenration in einer Krisenregion unserer Welt.

Unterschreiben würden aber wahrscheinlich trotzdem alle drei den Satz: Der Mensch braucht das täglich Brot. Er braucht regelmäßige Nahrung. Ohne eine ausreichende Ernährung geht schnell gar nichts mehr. Deswegen ist das Recht auf Nahrung Teil der internationalen Menschenrechte und beinhaltet "das Recht auf ausreichend qualitativ und kulturell akzeptable Nahrung und sauberes Trinkwasser". Ein Menschenrecht und trotzdem fragil.

Wenn wir an die Menschen in Gaza denken, heute kurz vor dem Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, an die israelischen Geiseln, an die Kinder in Charkiw, die Alten im Jemen oder in Sambia, Menschen auf der Flucht, dann wird uns die Verletzlichkeit des Lebens bewusst. Wenn ich über diese Nöte nachdenke, dann bin ich gleichzeitig froh darum zu wissen, dass es da immer wieder Menschen gibt, die diese Verletzungen nicht hinnehmen. Brot für die Welt, Unicef, die Tafeln und das gekaufte und verschenkte Käsebrötchen für jemanden am Straßenrand. Es passiert ja tagtäglich, dass Menschen für das Grundrecht auf Nahrung kämpfen. Als Christenmenschen bitten wir darum: "Unser tägliches Brot gib uns heute."

Als Kirchenfrau frag ich mich aber auch: Tun wir das ausreichend? Die biblischen Texte zu Erntedank fordern das ein. "Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!" Entzieh dich nicht den Bedürftigen, deinen Mitmenschen, die Nahrung brauchen. Oder um es mit Bertolt Brecht in der Dreigroschenoper zu sagen: "Erst kommt das Fressen und dann die Moral."

II
Erst also das Fressen. Und dann die Moral? Nicht ganz, behaupte ich. Die Moral ist ein Maßstab fürs Miteinander. Moral mündet in Regelwerke. Das zweite, was der Mensch braucht, ist aber nicht primär ein Regularium, sondern vor allem Interaktion. Im Film "Cast away" verwandelt Tom Hanks in der Rolle des gestrandeten Chuck Noland deswegen kurzerhand einen Volleyball zu seinem Gesprächspartner Wilson. Der Ball war in einem der Pakete, die an Land gespült wurden, und Chuck Noland braucht jemandem, mit dem er reden kann.

Oder denken Sie an ein Baby. Ein kleines Menschenjunges mit seinen winzigen Händchen und den zugekniffenen Augen. Dieses Wesen braucht einen Menschen, der mit ihm in Kontakt tritt. Es ist zutiefst bedürftig.

Andere Säugetiere sind da anders veranlagt. Ein Rehkitz macht drei Stunden nach der Geburt seine ersten Steh- und Gehversuche. Die Waljungen schwimmen von Geburt an in der Herde mit. Beim Löwenjungen brechen ab der zweiten Lebenswoche die Milchzähne durch. Und unsereins? Wir lassen uns damit ziemlich Zeit.

Wir üben etwas anderes ein in unseren ersten Lebenswochen und -monaten. Die Interaktion mit anderen. Das Baby braucht die Hände und die Zuwendung der anderen. Das Gehaltenwerden beim Trinken, den warmen Bauch und den Herzschlag eines anderen. Menschsein ist Bedürftigkeit. Der Mensch ist nicht nur Nahrungs,- sondern auch Beziehungs-abhängig. Am Lebensanfang und oft am Lebensende wird das besonders deutlich. Das Neugeborene, den sterbenden Menschen, beide wollen wir schützen und bergen.

Den Menschen als Jäger und Sammler zu bezeichnen, bedarf einer Ergänzung. Er ist auch einer, der auf Fühlung geht. Ein Beziehungswesen. Wie zum Menschsein die Suche nach Nahrung und das Sammeln von Holz gehört, so umfasst Menschsein auch die Suche nach Beziehungen. Der Wunsch, das Handy mit auf die Insel zunehmen, zutiefst menschlich. Die funktionierende Sim-Karte auf der Flucht und in der Fremde: unabdingbar.

Und so lese ich den Text des Propheten Jesaja auch. Dort wird mit tollen Worten beschrieben, wie Menschen Beziehungen knüpfen. Einen anderen mein Herz finden lassen. Auch davon lebt der Mensch. Es heißt dort: "Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag." Einen anderen mein Herz finden lassen, in Beziehung gehen, davon leben wir, das lässt uns leuchten.

Gott hat in uns etwas angelegt, eingepflanzt, einen Keim, der wachsen, ein Licht, das strahlen möchte. Das leuchten will. So stark, dass Finsternis nicht mehr dunkel ist.

Was es dafür braucht: Menschliche Begegnung. Das Zuwenden zueinander. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Dann wäre er satt, aber im Dunkel. Er ist Beziehungswesen. Und das merkt man, wenn da einer verschwindet. Wie schwer fällt das Essen, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist. Dann kann der Tisch gedeckt sein, die zugeschnürte Kehle und die verletze Seele wollen trotzdem keinen Bissen probieren. Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein.

III
Der Mensch lebt vom Brot. Zuerst also das Fressen — und dann eine kräftige Portion Beziehung. War es das? Nein, Menschsein ist mehr. Den Satz von Bertolt Brecht erweitere ich heute Morgen: Zu unserem Sein als Futternde und Beziehungswesen, da gehört etwas Drittes. Und das wird deutlich, wenn wir auf unsere Biografien schauen. Im Laufe der Zeit sind wir immer wieder auf der Suche. Nach Nahrung, nach Beziehungen, nach Stabilität und nach Grenzen. Wir halten Ausschau nach dem, was uns Sicherheit und Gewissheit gibt. Das tägliche Brot gibt uns Sicherheit. Sichere Beziehungen mit verlässlichen Regeln brauchen wir zum Gedeihen. Und gleichzeitig suchen wir neben diesen Sicherheiten auch die Freiheit, das, was außerhalb von unserem Erfahrungshorizont liegt. Davon erzählen Trotzphasen, Pubertät und Midlife-Crisis. Komische Worte für eine eigentlich schöne menschliche Eigenschaft: Freiheitsneugierig zu sein.

Ich behaupte: Zu dieser Neugier auf die Welt gehört auch die Neugier auf den Urgrund dieser Welt. Die Suche nach dem, was vor uns war und nach uns sein wird. Die Suche nach dem Kontakt zu unserer Ursprungskraft. Der Mensch fragt nach dieser Schöpfungskraft und sucht auch hier Beziehung. Es ist wahrscheinlich die abstrakteste Beziehung und fundamentalste Begegnung, die wir suchen können. Sie ist das, was aber auch unbedingt zum Menschsein dazu gehört. Es ist die äußerste Beziehung, die Menschen suchen. (…) "Die Beziehung zum Ganzen der Welt, ihrem Ursprung, ihrer Zukunft, ihrem Geheimnis, ihren Kräften, ihren Regeln: nach Gott". Ich sage "Gott", andere haben andere Namen dafür.

Ich glaube, diese Suche nach der Ursprungskraft, der Wunsch nach dem Kontakt zu einer größeren Macht als uns selbst, ein In-Beziehung-Treten mit unserem Schöpfer, das brauchen wir ebenso. Und das Erntedankfest heute, der Wunsch, "Danke" zu sagen, das erzählt davon. Ein Danke ist ein wundervolles Wort in Beziehungen.

Wovon lebt der Mensch? Zunächst vom Fressen, dann von Moral und Beziehung und schließlich zu Gott hin. Der Flicken vom Rock, das Stück vom Brotlaib sind nie genug. Gott will mehr für uns. Essen, Miteinander und Gottesbezug - ein gutes Rezept fürs Menschsein würde ich sagen. Und ein gutes Rezept für Erntedank. Danke sagen für das, was wir haben: An Gütern und Nahrung, an Beziehungen, an Gotteserfahrung.

Dass wir das leben und erleben, das gebe Gott.

Amen.

Es gilt das gesprochene Wort.
 

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