Advent – da muss Maria dabei sein, auch für Evangelische. Die Mutter von Jesus ist für viele eine beeindruckende Frauengestalt aus der Bibel: entschlossen, aufmerksam, kämpferisch, bodenständig, fromm.
Um sie geht es im Gottesdienst am Ersten Advent aus der evangelischen Pauluskirche in Werl. Der Deutschlandfunk überträgt live ab 10.05 Uhr.
Der Gottesdienst spannt einen Bogen über Marias Leben, von der Verkündigung durch den Engel bis zur Auferstehung Jesu und der Sendung des Heiligen Geistes in Jerusalem. Von Advent bis Pfingsten in 55 Minuten.
Dieses biblische Speed-Dating basiert auf einem Pilger-Oratorium, das im Sommer 2024 von Jugendlichen uraufgeführt wurde. Eine Tournee führte zu Fuß durch Westfalen. Dieselben Jugendlichen singen im Gottesdienst die wichtigsten Songs und lesen die biblischen Texte.
Die Liturgie hält Pfarrer Christoph Lichterfeld aus Werl. Es predigt Superintendent Dr. Manuel Schilling aus Soest. Die musikalische Leitung hat Kantor Paul Knizewski.
Die Stadt Werl in Nordrhein-Westfalen ist ein bedeutender katholischer Wallfahrtsort.
Lieder des Gottesdienstes:
1. Macht hoch die Tür, EG 1, Strophen 1 und 2
2. Lobgesang der Maria, EG 769
3. Wie schön leuchtet der Morgenstern, EG 70, Strophen 1 und 2
4. O Haupt voll Blut und Wunden, EG 85, Strophen 1 und 6
5. Wie soll ich dich empfangen, EG 11, Strophen 1 und 2, 4 und 5
Predigt nachlesen:
I: Theologischer Einstieg
Liebe Gemeinde, liebe Hörerin, lieber Hörer,
war Maria schön? Bestimmt, die ganzen Bilder von ihr seit zweitausend Jahren zeigen die schönste Frau der Welt: junges Mädchen, lange Haare, hohe Stirn, sanfter Blick. Bilder können nicht lügen. War Maria fromm? Bestimmt. Auf den meisten Bildern faltet sie die Hände. War Maria lieb? Na klar. Sonst hätte sie sich das nicht gefallen lassen, seit zweitausend Jahren zu dieser – sagen wir mal etwas zugespitzt – kirchlichen Puppe zurechtgemodelt zu werden, wie wir sie alle kennen.
Hand aufs Herz: Ist eine schöne, fromme, liebe Maria heute wichtig?
Was für Frauen sind heute wichtig? Frauen wie Maria Kolesnikowa, die sich für die Freiheit in ihrem Land Belarus einsetzt. Derzeit befindet sie sich in einer kleinen Gefängniszelle in Isolationshaft, wenn sie nicht schon von der Geheimpolizei des Diktators Lukaschenko zu Tode gefoltert wurde. Wir wissen es nicht. Oder Gisèle Pélicot, die derzeit Tag für Tag im Gerichtssaal von Avignon ihren Vergewaltigern gegenübersitzt. Sie mutet sich, den Angeklagten und der ganzen Öffentlichkeit die Videos zu, die von ihren Vergewaltigungen gedreht wurden. Alle sollen es wissen, was diese Männer getan haben. Gisèle Pélicot sagt: Die Scham soll die Seite wechseln. La honte doit changer le camp.
Das sind wichtige Frauen. Maria? Die Maria, die wir kennen, die unzähligen Kirchen ihren Namen geben hat, deren Standbilder geschmückt und aufgesucht werden, deren Medaillen sich manche um den Hals hängen. Diese bekannte Maria hat mit Maria Kolesnikowa und Gisèle Pélicot auf den ersten Blick wenig gemein. Wenn man genauer hinsieht, gibt es auch eine andere Maria. Die Maria der Bibel. Von der wollen wir heute erzählen und singen. Denn Maria hat gekämpft, hat gelitten, hat nicht gekniffen, als es schwer wurde. Maria hat sich auch geirrt, hat Fehler gemacht, hat sich in Sackgassen manövriert. Maria hat nicht aufgegeben, sie hat am Ende alles riskiert und alles gewonnen.
Davon werden wir heute die wichtigsten Texte aus der Bibel lesen und Lieder dazu singen. Einige davon sind alt, andere ganz neu.
Beginnen wir mit Advent, mit der Zeit vor Jesu Geburt. Maria ist ein junges Mädchen in Nazareth, mit dem Zimmermann Josef verlobt. Josef ist ein Nachkömmling des großen Königs David.
Noch vor der Hochzeit erscheint bei Maria der Engel Gabriel und kündigt ihr an, dass sie ab – Schnipp – "JETZT" schwanger ist, ohne mit einem Mann geschlafen zu haben, und dass sie nichts weniger als den Heiland der Welt im Bauch trägt. Den Sohn Gottes, den Retter. Maria stimmt zu, lässt sich darauf ein, versucht nicht, das Kind abzutreiben, gerät in Konflikt mit ihrem Verlobten Josef, flieht aus dem Kaff Nazareth mit seinen Gerüchten, kehrt erst nach sechs Monaten wieder zurück. In Nazareth findet sie Josef vor, der von einem Engel im Traum erfahren hat, dass Maria ihn nicht angelogen hat. Zusammen entschließen sie sich, eine Patchworkfamilie mit Gott zu gründen, und machen sich auf den Weg nach Bethlehem zwecks Geburt.
II: Der wilde Jesus
War Jesus lieb? Daran kann man zweifeln.
Der Patchworkfamilie Maria, Josef und Gottessohn Jesus wurde auch einiges zugemutet. Die Familie muss unmittelbar nach der Geburt wegen des Kindes für einige Jahre ins Ausland fliehen. Nach der Rückkehr wird es Spannungen gegeben haben. Wie lässt es sich sonst erklären, dass der Junge mit zwölf Jahren bei einer Gruppenreise in die Hauptstadt heimlich abhaut und untertaucht? Erst drei Tage später finden die Eltern ihn ausgerechnet im Tempel wieder. Dem Jungen geht es gut, er diskutiert mit den Erwachsenen dort. Seine Eltern hat er offensichtlich nicht vermisst. Die Mutter muss ihn zur Rede stellen. Der Vater schweigt. Der Junge antwortet, die Eltern sollten sich nicht so haben. Sein Papa hier sei ja gar nicht sein richtiger Papa. Eigentlich gehöre er gar nicht wirklich zu ihnen. Der fromme Spruch des Adoptivsohnes muss Josef den Rest gegeben haben. Mir hätte es den Rest gegeben.
Von Josef wird danach in der Bibel nichts mehr berichtet. Er stirbt, verschwindet von der Bildfläche. Maria geht ihren Weg allein, zwischen dem Ältesten, Jesus, diesem besonderen Kind, und den anderen Kindern, die danach gekommen sind. Der Handwerksbetrieb muss nach dem Tod des Vaters weiterlaufen. Jesus gibt diese Aufgabe an die anderen Geschwister ab und bricht ein zweites Mal auf. Dieses Mal endgültig.
Bei einer Hochzeit im Dorf Kana treffen die verwitwete Mutter und ihr Ältester zum ersten Mal nach seinem Auszug zusammen. Jesus hat schon eine kleine Schar von Anhängern um sich versammelt.
III: Die Passion
Einmal noch hat Jesus versucht, seine Familie in der Heimatstadt Nazareth zu besuchen. Die Bewohner beäugen ihn misstrauisch. Seine Familie stellt sich nicht hinter ihn. Erfolglos streicht Jesus die Segel. Danach Funkstille.
Blut ist dicker als Wasser. Sie sind nicht voneinander losgekommen, Mutter und Sohn. Dass ihr Ältester einen ziemlich riskanten Weg geht, das ist wohl allen klar, nicht zuletzt Jesus selbst. Mit seiner grenzenlosen Liebe zu den Menschen zieht er den grenzenlosen Hass derer auf sich, die mit Vorurteilen durch die Welt gehen und daraus ihren Vorteil ziehen. Innerhalb kurzer Zeit verdüstert sich der Horizont für den obdachlosen Wanderprediger Jesus und seine Freunde.
Er selbst kündigt es seinen Freunden an: "Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird überantwortet werden den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, und sie werden ihn zum Tode verurteilen und den Heiden überantworten, und die werden ihn verspotten und anspeien und geißeln und töten, und nach drei Tagen wird er auferstehen." (Mk 10,33f).
So ist es auch gekommen. Jesus hat alles vorausgesagt. Auch, dass er von seinen Freunden verraten und verlassen wird. Keine schöne Beziehungskarriere: am Anfang einen Vater zu viel, dann zuerst den irdischen Vater und danach Mutter und Geschwister für die neue Familie der Freunde verloren, am Ende von denen im Stich gelassen, ganz allein am Kreuz. Da stellt sich die Frage, ob der himmlische Vater noch da ist: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15,34), schreit der Gottessohn. Der Vater antwortet nicht.
Das hatte Jesus nicht vorausgesehen. Der Vater im Himmel antwortet nicht. Aber zu Füßen des Kreuzes steht seine Mutter. Auch sie antwortet nicht. Sie ist einfach da. So wie sie bei ihm war, als er seinen ersten Atemzug tat, so auch jetzt, wenn er seinen letzten tut. Mutter und Sohn müssen nicht miteinander sprechen. Jesus kann für seine Mutter Vorsorge treffen – vielleicht das erste Mal in seinem Leben. Er bittet seinen Lieblingsjünger, Maria zu sich zu nehmen. Dann kann Jesus gehen. Seine letzten Worte: "Es ist vollbracht." (Joh 19,30).
IV: Ostern
Dass die Mama da war, als er scheiterte, das war ein Geschenk des himmlischen Vaters, da warf die Auferstehung schon ihr Licht voraus. Dieses Licht geht in seiner ganzen Fülle drei Tage nach der Hinrichtung auf. Das Licht des Ostersonntages überstrahlt allen Schmerz und alle Scham. Der Auferstandene vergibt den Jüngern, dass sie ihn im Stich gelassen hatten, und verspricht: "Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende." (Mt 28,20).
Mitten in diesem Licht: auch die Mutter, Maria. So, wie sie bis zu seinem Ende ihn nicht losgelassen hat, so lässt ihr auferstandener Sohn sie nicht los. Einmal wird sie sterben, dann wird sie wieder bei ihm sein.
Wir wissen von Maria aus Nazareth nicht viel. Daran beißt aber historisch keine Maus einen Faden ab: nach dem Tod und der Auferstehung Jesu haben Maria und Teile ihrer Familie zur Urgemeinde gefunden. Maria hat am Anfang "Ja", gesagt, und sie hat es auch am Ende getan. So hat sie Frieden gefunden.
Predigtabschluss
Zum Schluss noch zwei Bemerkungen.
Erstens: Ihr fragt vielleicht: Ist es wirklich so passiert, wie wir es heute erzählt haben? Natürlich nicht! Zu unserer Ehrenrettung können wir sagen: Wir haben nur erzählt, was auch in der Bibel steht, und nichts dazu erfunden. Aber seien wir ehrlich: Auch die biblischen Berichte ergeben kein eindeutiges Bild.
Und damit kommen wir zum Zweiten, zu unseren Anfangsfragen.
Versuchen wir mal eine Antwort:
War Maria schön? Das ist egal. War sie fromm? Ja, denn sie hat auf Gott gehört, mit Höhen und Tiefen, bis an ihr Lebensende. War sie lieb? Sie hat geliebt. Sie wurde geliebt. Sie wurde geliebt von dem Sohn, den sie nicht verstand. Wer versteht schon Jesus? Und diese Liebe, die höher ist als alle Vernunft, die hat sie bewahrt. Diese Liebe kann auch uns bewahren.
Ist Maria heute wichtig? Unbedingt! Sie kann für uns ein Vorbild sein.
In der Kirche beginnt mit dem Ersten Advent heute ein neues Kirchenjahr. Möge es ein gutes Jahr werden, für uns, für Maria Kolesnikowa und Gisèle Pélicot und alle anderen Kämpferinnen und auch Kämpfer, die sich für eine bessere Welt einsetzen. Möge es – und da strecke ich jetzt unseren katholischen Geschwistern ganz weit die Hand aus – ein gutes Jahr mit Maria werden. Einen gesegneten Advent!
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen