Foto: Henrich Schwerk
Eröffnungsgottesdienst des 97. Bachfestes
Live-Übertragung aus der Nikolaikirche in Plön
24.09.2023 10:05
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Predigt zum Nachlesen:

I

„Entschuldigung“, sagt der Mann, der im Zug neben mir seinen Platz einnimmt, „es könnte jetzt etwas eng werden.“ Und bevor ich überhaupt etwas sagen kann, ist er schon dabei, einen riesigen Koffer über uns zu verstauen. Dann nimmt er auch noch einen großen, prall gefüllten Rucksack vom Rücken und setzt ihn zwischen uns auf den Boden. An eine bequeme Reise ist nicht mehr zu denken, so viel Platz nimmt er ein. „Sage ich ja“, nickt er mir breit lächelnd zu, „könnte eng werden. Aber wissen Sie, ich fange ein neues Leben an.“

Und dann sprudelt es nur so aus ihm heraus: er erzählt von seiner bevorstehenden Flugreise nach Neuseeland, von dem, was ihn dort erwartet. Davon, dass er alles hinter sich lassen will. Denn hier in Norddeutschland sei für ihn viel schiefgelaufen: im Beruf nicht glücklich geworden, eine Ehe und eine langjährige Beziehung gescheitert. Zu der inzwischen erwachsenen Tochter hat er kaum noch Kontakt. „Also mich hält hier nichts mehr“, sagt er. Was er hatte, hat er verkauft, manches auch verschenkt. Kurz bevor er schwer bepackt wieder aussteigt, sagt er noch: „Ab jetzt wird alles anders. Für mich fängt ein ganz neues Leben an.“

 

II

Ich sehe dem Mann aus dem Zug hinterher, wie er mit Koffer und Rucksack den Bahnsteig entlang geht. Und ich frage mich: Geht das überhaupt? Ein neues, ganz anderes Leben anfangen? Die Lebensumstände mögen sich ändern, den Lebensort kann man wechseln, na klar. Aber man wird dabei ja kein anderer Mensch. Jedenfalls nicht von einem Tag auf den anderen. Wir können ändern, wo wir leben. Wir können verändern, wie wir leben. Aber wie anders unser Leben auch werden mag – wir nehmen uns selbst immer mit. Unseren Körper und unsere Falten im Gesicht, unsere ganz eigenen, in Leib und Seele eingeschriebenen Erfahrungen und Erinnerungen, all das, was uns seit Jahren und Jahrzehnten ausmacht. Und doch – so manche beschleicht der unbestimmte und sehnliche Wunsch, es möchte doch alles noch einmal ganz neu und anders werden. Als ob eine innere Stimme flüstert: „Du musst dein Leben ändern.“

Andere erleben, dass sie ganz ohne ihr Zutun und sogar gegen ihren eigenen Wunsch ihr Leben ändern müssen – weil eine Ehe oder Partnerschaft scheitert, weil Krankheiten Lebensträume oder Berufsziele zunichtemachen, weil ein geliebter Mensch stirbt, weil so manches, das wir für sicher und unverrückbar halten, sich dann doch als fragil und zerbrechlich erweist. Spätestens dann ist sie da: die Frage, ob und wie ein neues, ganz anderes Leben beginnen kann.

 

 

III

Die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus gibt auf ihre Weise eine Antwort auf diese Frage. Auch für Lazarus beginnt ein neues, ein ganz anderes Leben. Eines, zu dem seine Lebensgeschichte dazugehört, und das dennoch eine völlig andere Qualität hat und sich einer gänzlich neuen Dimension öffnet.

Wie aber beginnt das neue, ganz andere Leben des Lazarus aus Betanien? Nun, zunächst und ziemlich nüchtern damit, dass Lazarus krank darniederliegt. Wir wissen nicht, woran er erkrankt ist. Wir erfahren nur, dass es eine Krankheit ist, die ein Aufstehen unmöglich macht. Für Lazarus geht im Wortsinn gar nichts mehr, alle bisherigen Lebens- und Handlungsmöglichkeiten sind an ihr Ende gekommen. Und die, die dabei zusehen, seine Schwestern Maria und Marta, erleben, dass nichts und niemand ihrem Bruder helfen kann. Was kommen wird, ist absehbar. Als Jesus endlich kommt, findet er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen.

Das neue, ganz andere Leben des Lazarus aus Betanien beginnt damit, dass sein bisheriges Leben zu Ende geht. Was dann folgt, sind zutiefst gemischte Gefühle. Gefühle, die wir als Reaktion auf Erfahrungen von Sterben und Tod kennen: Trauer, Ohnmacht und Zorn. In der Geschichte des Lazarus sind sie verteilt auf verschiedene Personen und Gruppen: Da sind viele Menschen, die vom Schicksal des Lazarus erfahren. Sie kommen, um seine Schwestern Maria und Marta zu trösten. Die beiden reagieren ganz unterschiedlich auf den Tod ihres Bruders: Maria bleibt bewegungslos sitzen. Was in ihr vorgeht, kann man nur vermuten: Tiefe Traurigkeit und oder ratlose Ohnmacht vielleicht, sie weiß einfach nicht mehr weiter. Marta dagegen setzt ihre Trauer in Bewegung. Sie muss etwas tun. Sie geht Jesus entgegen, sie macht ihm Vorwürfe, sie zeigt ihm ihren Ärger, ihren Zorn. „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“

Und als Jesus sie damit trösten will, dass ihr Bruder auferstehen wird, wirft sie ihm ihre Bitterkeit vor die Füße: „Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.“ Das soll wohl so viel heißen wie: „Komm du mir nicht mit der Auferstehung, irgendwann am Jüngsten Tag. Das ist schön und gut. Aber was soll mir das helfen, jetzt und hier?“

Schmerz und Trauer über das, was verloren ist, was nie mehr wiederkommen wird, machen ohnmächtig, hilflos und ratlos. Oder zornig und ängstlich. Sie führen auch in manchen Streit. Das Alte ist vergangen, vorbei und verloren. Und das Neue ist noch nicht da. Es ist noch nicht einmal zu erahnen. Eine schwierige und schwere Zeit, voller Unsicherheit und Angst. Und doch zugleich eine Zeit der Verwandlung. Eine Zeit, in der ein neues, ganz anderes Leben wächst. Aber wie beginnt es denn nun, das neue, ganz andere Leben?

 

IV

Es beginnt, indem ein anderer es für uns beim Namen nennt. Es beginnt, indem eine andere uns sagt, was wir selbst uns nicht sagen können. Es beginnt, indem ein anderer uns aufmerksam macht: Diese Zeit ist schwer. Aber sie geht vorüber. Etwas Neues wird kommen. Es ist schon im Werden. Sieh doch nur, was geschieht. Sieh doch nur, was sich ändert.

In der Geschichte des Lazarus ist es Jesus, der das Neue, das werden wird, beim Namen nennt. Er sagt zu Marta: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?“ Jesus ruft etwas Neues, ganz Anderes ins Leben. Und er steht selbst, ganz persönlich, dafür ein: Ich bin die Auferstehung und das Leben.

Jetzt geht es nicht darum, ob wir das für wahrscheinlich halten. Oder ob das unserer Erfahrung von Wirklichkeit entspricht. Sondern es geht einzig und allein darum, ob wir dem vertrauen, wofür Jesus steht und einsteht. Ob wir ihm selbst vertrauen und glauben.

Jesus spricht zu Marta: „Glaubst du das?“ Und sie spricht zu ihm: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“ Und dann heben sie den Stein weg. Jesus ruft mit lauter Stimme: „Lazarus, komm heraus!“ Und tatsächlich: der Verstorbene kommt heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht ist noch verhüllt mit einem Schweißtuch.

Das neue, ganz andere Leben beginnt, wenn wir auf die Zusage Jesu vertrauen, die sich unserer Erfahrung letztlich entzieht. Wir können sie nicht überprüfen. Wir können sie nicht kontrollieren. Aber wir können darauf vertrauen, dass Wirklichkeit wird, wofür Jesus selbst mit seinem Leben einsteht. Jesus ruft Lazarus beim Namen. Und aus dem Grab kommt einer heraus, für den ein neues, ganz anderes Leben beginnt. Ihm selbst ist das vielleicht noch gar nicht klar. Noch sind seine Hände und Füße gebunden, nur sehr vorsichtig kann er gehen. Noch ist sein Gesicht verhüllt, seine Augen können noch gar nicht sehen, wie ihm geschieht. Noch ist unter mancherlei Hüllen verborgen, was nun seinen Anfang nimmt. Aber alle, die um Lazarus herumstehen, sehen, was sich tut. Vielleicht sehen sie schon mehr als er selbst, entdecken das neue, ganz andere Leben unter den alten Hüllen.

 

 

V

Ich höre die Geschichte des Lazarus als eine dazwischen-Geschichte. Sie erzählt von einer Auferstehung mitten im irdischen Leben und zugleich von der Auferstehung nach dem Ende des irdischen Lebens. Das neue Leben des Lazarus aus Betanien, das mitten im Leben beginnt, erinnert an das, was die Bach-Kantate, die diesen Gottesdienst prägt, besingt: Jeden Tag, jede Stunde, ja, jede Minute beginnt unser Leben neu. Immer wieder ist es Geschenk aus Gottes Hand. Immer wieder erhält und trägt er unser Leben – auch inmitten von Angst und Not, von Sorge und Schmerz. Auch dann, wenn wir selbst es vielleicht gar nicht sehen können. Bachs Kantate „Lobe den Herren“ besingt das mit Worten von Joachim Neander. Und jede einzelne Stimme, Alt, Sopran, Bass und Tenor ist daran beteiligt: immer wieder wirst du aufs Neue sicher geführt, immer wieder wirst du aufs Neue bewahrt, immer wieder freundlich geleitet, in Angst und Not behütet, immer wieder wirst du aufs Neue mit Liebe gesegnet. Hast du das nicht auch erlebt? Hast du das nicht auch gespürt? Diese eindringlichen Fragen beantwortet die Kantate immer wieder mit Lob und Dank: Ja, so war es, auch inmitten von Sorge und Angst, ja so ist es, ja, so wird es bleiben, und deshalb: Lobe den Herren!

Zum Schluss wird uns der Tenor eindringlich erinnern: „Denke daran! Denke daran! Vergiss nicht, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet.“ Und der Chor wird einstimmen: „Lobe den Herren, er ist dein Licht, Seele, vergiss es ja nicht!“

Wie die Kantate erinnert auch die Geschichte des Lazarus: Vergiss nicht, dass das Leben, das Gott schenkt, jeden Tag immer wieder neu beginnt – Auferstehung mitten im Leben. Und wie die Geschichte des Lazarus weist auch die Kantate somit auf die Hoffnung, dass uns allen am Ende des Lebens nicht der ewige Tod droht, sondern ein ganz und gar neues Leben blüht.

Und Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Wenn die alten Binden und Bindungen gelöst sind, wenn Trauer, Schmerz und Zorn ihre Zeit hatten, dann beginnt es, ein neues und anderes Leben. Mitten im Leben, jeden Tag neu. Und wenn der uns beim Namen ruft, der von sich sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben, dann beginnt auch am Ende des Lebens noch einmal ein neues, ganz anderes Leben. Seele, vergiss ja nicht! Lobe den Herren! Amen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Dlf Gottesdienst