Vor 100 Jahren ist Franz Kafka gestorben, einer der einflussreichsten und seltsamsten Prosadichter des beginnenden 20. Jahrhunderts. Ohne ihn wären viele Aspekte des Menschseins wohl unentdeckt geblieben. Von ihm sind Texte und Romanfragmente überliefert, die in die tiefen Abgründe der menschlichen Existenz hineinreichen. Eine solche Dichtung ist die Parabel „Vor dem Gesetz“.
Sie beschreibt einen Mann vom Land, der zur Tür des Gesetzes kommt und hineingelassen werden will. Davor steht jedoch ein Türhüter, der ihn nicht einlässt. Es sei zwar nicht unmöglich, zum Gesetz zu gelangen, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. Alle Mühen dieses Mannes, doch noch zum Gesetz vorzudringen, scheitern. So verbringt er sein ganzes Leben vor der Tür des Gesetzes. Bevor er stirbt, fragt er den Türhüter, warum außer ihm selbst niemand sonst bei dieser Tür anklopfe, das Gesetz sei doch für alle da. Der Türhüter brüllt den fast taubgewordenen Mann an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diesen Text zu deuten: Der autobiografische, der gesellschaftliche und der religiöse Ansatz. Jeder dieser Interpretationsversuche hat sein Recht und verdeutlicht wesentliche Aspekte des Textes. Franz Kafka war kein Christ. Dennoch wage ich eine christliche Betrachtung seiner Parabel.
Es fragt sich zunächst: Was ist dieses Gesetz? Die Versuchung liegt nahe, es mit den Geboten der Bibel oder des christlichen Glaubens zu identifizieren. Nur sind diese Gebote allgemein zugänglich und an viele gerichtet, während Kafkas Gesetz nur einem einzigen gilt. Es scheint so etwas wie das Gesetz des je eigenen Lebens zu geben.
Was damit gemeint sein könnte, das veranschaulicht eine Erzählung über den Rabbi Sussja. Vor seinem Ende wurde er gefragt: „Rabbi, warum bist du so traurig?“ Und Sussja sagte: „Ich habe mich mein ganzes Leben lang immer mit anderen verglichen. Aber in der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mose gewesen? Man wird mich auch nicht fragen: Warum bist du nicht David gewesen? Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?“ Wir sind in der Welt, um unsere ureigenste Bestimmung zu finden und zu leben. Wir sollen werden, was wir sind. Das ist das uns auferlegte Gesetz.
Nur steht da der Türhüter vor diesem Gesetz und verhindert den Eintritt. Es gibt viele solcher Türhüter, die einen daran hindern, zu der eigenen Bestimmung zu finden. Da sind die gesellschaftlichen Konventionen, Arbeitgeber, vermeintliche und tatsächliche Zwänge, die solche Türhüter sein können. Ich kann mir auch selbst im Weg stehen. Ich könnte diese Instanzen überwinden, aber falsche Rücksichtnahme, Angst und Feigheit hindern mich daran. Ich halte fest an Normen, die mir wichtig erscheinen. Auch Egoismus kann ein Grund sein, warum mir die Tür zu meiner Bestimmung verwehrt bleibt. Es geht darum, sich von all diesen einengenden Kräften innerlich zu lösen und die je eigene Identität zu gewinnen.
Im christlichen Glauben ist diese Identität gegründet in Gott. Er schuf, so heißt es in der Bibel, den Menschen nach seinem Bilde. Doch wird dieses Bild Gottes unkenntlich gemacht durch Fremdbestimmung, durch Angst vor dem eigenen Leben, durch Schuld, eben: durch die Türhüter im Sinne Kafkas. Niemand kann sie aus eigenen Kräften überwinden, so der christliche Glaube. Man braucht jemanden, der hilft, die Barrieren vor der eigenen Existenz aufzulösen. Dieser Jemand ist Jesus Christus. Er lebte nach seiner Bestimmung; er litt unter denen, die dieses Vorbild verhindern wollten. Er litt bis zum Tod am Kreuz. Darin aber und in seiner Auferstehung liegt die Kraft, mit der die Türhüter überwunden werden können. Darauf vertraue und hoffe ich.