Morgenandacht
Verwandlung im Moment
18.03.2021 05:35

Die Sendung zum Nachlesen: 

Das Kreuz über der Chorschwelle der Nürnberger Lorenzkirche ist ein so genanntes Triumph-bogenkreuz. Es soll zeigen: Christus triumphiert in der Auferstehung über die Mächte des To-des. Doch wie Jesus den Tod besiegt, lässt sich nicht mit militärischen Siegen vergleichen. Die triumphale Bezeichnung verstellt den Blick auf den Vorgang der Verwandlung, den das 600 Jahre alte Kunstwerk darstellt. 
Das Lorenzer Kreuz steht nämlich auf einem farbigen Holzbogen, dem Regenbogen nachgebil-det. Aus dem Holz am Kreuzesstamm und aus den seitlichen Querbalken beginnt es grün zu blühen. Wenn ich in St. Lorenz am Altar stehe und nach oben schaue, dann sehe ich ein Kreuz, das wie ein Baum gestaltet ist. Der Stamm und die Äste verzweigen sich, aus ihnen heraus wachsen jeweils weitere Äste. Und sie tragen blühende Früchte. 

Die Vorstellung eines solchen Lebensbaumkreuzes stammt aus der Sammlung der Legenda au-rea, einem der meistgelesenen Bücher des Mittelalters. Die Legende erzählt, das Kreuz Jesu sei aus dem Holz des Lebensbaumes im Paradies geschnitten. Und die Kraft dieses Baumes, seiner Zweige und Blätter, habe von Anfang an immer wieder Menschen geheilt und lebendig gemacht. 
Die magische Vorstellung, die dahintersteht, ist mir unwichtig. Wesentlich ist: das Lebens-baumkreuz weist nach vorne, in die Zukunft. Trauer verwandelt sich in Freude. Am Kreuz in der Nürnberger Lorenzkirche steht der Gekreuzigte inmitten von blühenden Zweigen und Früchten. Das Leiden und Sterben des Gekreuzigten sind nicht umsonst, so verstehe ich diese Darstellung als Lebensbaum. Etwas erwächst daraus, bringt Leben hervor, reift, blüht und bringt Frucht. Das Kreuz, ein Werkzeug des Todes, wird zum Baum des Lebens. Aus dem Gal-gen wird ein Lebensbaum. Das ist kein militärischer Triumph. Sondern ein kraftvolles Bild der Verwandlung. Und diese Verwandlung ist im Gange, selbst lebendig. Das Blühen der Früchte am Lebensbaumkreuz ist eine Andeutung, ein Hinweis auf einen Vorgang, der andauernd und immer wieder stattfindet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das verändert meinen Blick auf den Tod Jesu am Kreuz.

Solche Verwandlung zeigt auch ein Kreuz in der Severinskirche in Keitum auf Sylt. Ich habe dieses Kunstwerk vor Jahren und erst auf den zweiten Blick entdeckt. Das Kreuz steht auf der Kanzel der Kirche, rechts neben dem Kanzelpult, ein etwa 25 cm großes Kreuz aus Silber. Beim ersten Anschauen mutet es etwas schief an. So, als würde sich der Stamm nach unten zu in zwei Beine teilen. Ein Bein bleibt am Boden, während das andere sich nach oben hebt. Und auch die beiden Seitenarme des Kreuzes scheinen unterschiedlich. Der rechte Arm reckt sich nach oben, der linke dagegen sucht einen Ausgleich zu schaffen, neigt sich nach unten, den Füßen entgegen. Ich war etwas irritiert und bin die Treppenstufen der Kanzel nach oben ge-gangen, um es mir aus der Nähe anzuschauen. 
Und da erkannte ich, was es ist: Eine Jesus-Darstellung am Kreuz oder besser: Eine Jesusfigur als Kreuz. In Form eines Kreuzes die Figur Jesu als Auferstehender. Als würde sich der tote Gekreuzigte als Auferstehender dem Himmel entgegenrecken. Tod und Auferstehung Jesu in eins gedacht und geschaffen, ineinander verbunden in einem Kunstwerk. Das Kreuz als leben-diger Vorgang der Verwandlung, der Veränderung.

Diese beiden Kreuze begleiten mich durch die Passionszeit. Ich brauche gar kein Bild davon. Das ist nicht nötig, die beiden Kunstwerke sind lebendig in meiner Erinnerung. Ich sehe sie ganz deutlich vor mir. Verwandlung in einem einzigen Moment. So möchte ich denken und glauben von den Menschen, deren Hände wir loslassen müssen. Dass eine Hand sie emporzieht, so wie der sterbende Jesus nach oben gezogen wurde. So möchte ich Verstorbene ansehen – mit dem Vertrauen darauf, dass Tod und Auferstehung zusammengehören.
 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Morgenandacht