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Tropfen auf den heißen Stein
Gedanken zur Woche von Pfarrer Eberhard Hadem
01.03.2024 06:35
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Sendung zum Nachlesen:

Die Solidarität mit dem Leid anderer Menschen ist eine wichtige Fähigkeit. Sie vermittelt denen, die unterdrückt, verachtet und geschunden werden, dass da jemand ist, der sie aufmerksam wahrnimmt. Die Botschaft ist klar: Ich sehe dich. Ich sehe dein Leid. Es ist mir nicht gleichgültig. Ich ignoriere nicht, was dir passiert. Ich nehme Anteil an dem, was dir geschehen ist.

Ausgestattet mit dieser zutiefst menschlichen Möglichkeit des Mitleidens kann ich mit jeder ukrainischen Mutter um ihren im Krieg getöteten Sohn trauern. Und auch mit jeder russischen Mutter um ihren Sohn. Ich kann mit jedem israelischen Vater um seine vergewaltigte und geschändete Tochter trauern. Und mit jedem palästinensischen Vater leiden, dessen Tochter durch Bomben getötet wurde.

Entsetzlich viele Menschen, Ereignisse, Orte und Grausamkeiten andernorts ließen sich anfügen. Und sie zeigen, wie hilflos ich bin. Sie führen mir vor Augen, wie wenig Macht ich habe. Ich kann nichts tun – außer Mitfühlen. Dabei passiert es leicht, dass ich meine, genau zwischen Opfer und Täter unterscheiden zu können und auch unterscheiden zu müssen. Die Gefahr ist groß, dass ich mich dadurch abschotte gegen das Leid der einen und nur noch das Leid der anderen sehe.

Auf der Abschlussveranstaltung der Berlinale am vergangenen Samstag sprach ein US-amerikanischer Filmemacher vom ‚Genozid‘ an Palästinensern. Viele im Saal haben applaudiert. Aber zur Schändung und Ermordung von Israelis am 7. Oktober hat er nichts gesagt. Und kein einziges solidarisches Wort galt den 130 Geiseln, die aktuell noch immer in den Händen der Hamas sind.

Oft wird das Leid der einen gegen das Leid der anderen aufgerechnet. Aber keine Zahl der Toten macht den Schmerz der einen kleiner oder größer als den der anderen.

Ich kenne die Versuchung, mich moralisch zu positionieren: Hier sind die Guten, da sind die Bösen. Meine Vermutung ist: Ich finde gute moralische Argumente für eine Seite, weil ich dann meine Ohnmacht besser aushalten kann. Oder vielleicht sollte ich eher sagen: besser verdrängen kann. Moralische Urteile über andere sind einfach. Sie kosten nichts, am allerwenigsten mich selbst. Ich kann so tun, als könnte ich von oben herab einen Konflikt bei anderen anschauen, denn ich bin ja kein Betroffener.

Mir geht es nicht darum, alle Beteiligten eines Konflikts oder Krieges vermeintlich objektiv gleich zu beurteilen. Das will ich nicht, und das kann ich auch gar nicht. Die Frage ist doch: In einem Konflikt, der nicht der meine ist – welche Haltung kann ich einnehmen, wenn ich nicht bei dem Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung stehenbleiben will?

Ich meine, ich habe die Möglichkeit zu Mitgefühl und Solidarität. Das versucht der christliche Weltgebetstag, der heute stattfindet. Jedes Jahr am ersten Freitag im März beten weltweit Christen eine gemeinsame Liturgie. Jedes Jahr nimmt der Weltgebetstag ein anderes Land, eine andere Nationalität in den Blick. In diesem Jahr kommen die Texte und Gebete aus Palästina. Frauen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland erzählen von ihrem Leben, von ihrer Unterdrückung, von ihrer Hoffnung. Die Texte für den Weltgebetstag waren letztes Jahr schon fertig. Dann kam der 7. Oktober mit dem Überfall der Hamas auf Israel. Neben das Leid der Palästinenser trat das Leid der Israelis.

Wie soll man von dem einen erzählen, ohne das andere abzublenden? "Wie kann man denn für beide beten?", fragt mich jemand, "das geht doch gar nicht." Doch, es ist möglich, Mitleiden und Trauer nicht zu teilen; auch nicht Anteilnahme und Solidarität. Sondern Gott zu klagen, weil beider Leid zum Himmel schreit. Dann darf mich das Schicksal anderer zu einem Betroffenen machen, zu einem Mitmenschen, der nicht wegsieht oder sich abschottet.

Am Ende der Gottesdienste zum heutigen Weltgebetstag wird in der ganzen Welt Geld gesammelt für Menschenrechts- und Bildungsprojekte, in denen palästinensische und israelische Frauen zusammenarbeiten. Das mag nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Aber es ist ein hoffnungsvolles Zeichen.

Es gilt das gesprochene Wort.