Gemeinfrei via Fundus/ Julia Mossal
Die Propheten in der Bibel sprechen von Frieden, als wäre er schon da. Kann das in Zeiten der Unsicherheit Kraft geben? Gedanken zu einer alten biblischen Sprachtradition und ihrer Bedeutung für heute.
Prophetisches Perfekt
Eine positive Zukunft beschreiben, als wäre sie schon da
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19.12.2025 06:35

Die Propheten in der Bibel sprechen von Frieden, als wäre er schon da. Kann das in Zeiten der Unsicherheit Kraft geben? Gedanken zu einer alten biblischen Sprachtradition und ihrer Bedeutung für heute.

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Etwas so ankündigen, als wäre es bereits geschehen. Eine Zukunft so beschreiben, als wäre sie schon da. "Perfectum propheticum" heißt das in der theologischen Fachsprache. Das prophetische Perfekt. Eine Besonderheit der hebräischen Sprache. Propheten sprechen in der Vergangenheitsform, wenn sie Ereignisse in der Zukunft ankündigen. Zum Beispiel der Prophet Jesaja: "Uns ist ein Kind geboren (…) und er heißt Friede-Fürst." Dann ist das so, als ob das Kind, dessen Geburt erst aussteht, schon auf der Welt ist. Und der Friede auch. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen in eigentümlicher Weise zusammen.

Das "perfectum propheticum" ist wie ein Siegelring Gottes. Gottes Verheißung prägt sich in die Gegenwart ein. Und das hat Auswirkungen auf die Zukunft. Bei Jesaja steht: "Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt."

Das Prophetenbuch Jesaja hat eine lange Entstehungsgeschichte. Sie ist eng verwoben mit vielen Kriegserfahrungen der Menschen. Von den brutalen Angriffen der Assyrer über die Zerstörung Jerusalems und die Verschleppung ins babylonische Exil. Ein blutiger Schrecken reiht sich an den nächsten. Die Menschen, die das Jesajabuch aufgezeichnet haben, sind nicht naiv. Sie wissen, wovon die Rede ist, wenn sie von Finsternis reden. Die ist mit allen Sinnen erfahrbar! Der Soldatenmantel stinkt nach dem Blut der Erschlagenen und dem Schweiß der Soldaten. In den Ohren schallt das Dröhnen der Stiefel.

Diese schreckliche Wirklichkeit gibt es bis heute: Stiefel, die mit Gedröhn dahergehen. Mäntel, die durch das Blut unschuldiger Menschen geschleift werden. Letzten Sonntag, am anderen Ende der Welt, ein Attentat auf Jüdinnen und Juden am Strand von Sydney.

Ein Kind ist uns geboren. Er heißt Friede-Fürst. Ich sehne mich so nach Frieden. Mit vielen Menschen auf der ganzen Welt. Und zweifle zugleich. Wie aussichtsreich sind Friedensverhandlungen? Welche Halbwertszeit haben Bilder der Einigkeit unter den Mächtigen, die über das Schicksal ganzer Länder verhandeln? Wird es jemals so sein, dass Jüdinnen und Juden sicher und in Frieden leben können und es keinen Antisemitismus mehr in Köpfen und Herzen gibt? Wie oft müssen Menschen zittern um das Wenige, was sie besitzen und um das nackte Leben? In welcher Welt wird meine Enkelin aufwachsen?

Propheten reden im Perfekt: "Uns ist ein Kind geboren Und er heißt Friede-Fürst."

"Perfectum propheticum" meint nicht: Verschließ die Augen vor der Realität, dann wird das schon. Perfektum propheticum sagt: Sieh klar hin. Da ist Licht. Es leuchtet in die Gegenwart hinein, trotz allem Schrecken.

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, denn uns ist ein Kind geboren! Gerade in dieser Adventszeit des Jahres 2025 merke ich, was für eine Kraft das für mich entfalten kann, wie es mein Herz tröstet, in all diesem zum Himmel schreienden Jammer. Und in meiner Angst.

Jesaja verheißt und rückt es in die Gegenwart: "Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude." Ich schaue auf unsere menschlichen Wege zur Freude: gemeisterte Herausforderungen, beglückende Gemeinschaft. Sie helfen mir zu begreifen und lassen ahnen, wie es aussieht, wenn die Prophezeiung des Friedens wirkt.

Freude wächst aus der Erfahrung und der Hoffnung, dass es anderes gibt als die Macht des Bösen. Es ist zum Jubeln, dieses kostbare lichtvolle Geschenk des Lebens! Gegen alle Wahrscheinlichkeiten, gegen jeden Augenschein, gegen die Macht des Faktischen und die Gewalt der Ruchlosen gilt das prophetische Perfekt: Das Licht hat über die Finsternis gesiegt. Ein Kind ist uns geboren. Allen Dunkelheiten zum Trotz.

Es gilt das gesprochene Wort.

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