Das befreite Wort
Die Rede von Christa Wolf am 4. November 1989
04.11.2024 06:35

Am 4. November vor 35 Jahren ergreift in Ost-Berlin eine Meisterin der Sprache das Wort: Christa Wolf. Auf dem Alexanderplatz vor Hundertausenden Menschen. Worte wirken, wenn Menschen endlich frei sprechen können. 

 
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Am Anfang war das Wort. Durch das Wort ist alles geschaffen, steht in der Bibel (Johannes 1). Das stimmt. Worte können Welten schaffen. Auch Welten untergehen lassen. Wenn das Wort freigelassen wird, ist es nicht mehr einzusammeln. Das macht es so riskant.
Es ist heute vor 35 Jahren, da ergreift eine Meisterin der Sprache das Wort: Christa Wolf, die große Schriftstellerin, redet auf dem Alexanderplatz in Berlin vor Hunderttausenden Menschen. So viele wie nie zuvor in der DDR haben sich an diesem Abend zur friedlichen und größten De-monstration versammelt. Sie gehen für Bürgerrechte auf die Straße und gegen Gewalt. Christa Wolf spricht: 

O-Ton Christa Wolf 
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei von den Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen: Demokratie jetzt oder nie! (1)

Fünf Tage nach diesem lauten Ruf fällt die Mauer. In der Bibel gibt es ein Urbild eines Mauerfalls: Die biblischen Israeliten ziehen mit Posaunen sieben Mal um die Mauern der Stadt Jericho her-um. Als das ganze Volk in einen furiosen Jubelschrei ausbricht, da fällt die mächtige Mauer in sich zusammen. 
1989 ist es auch der Mut der Vielen, die Macht des langen Atems und die Kraft der Stimmen, die den Mauerfall herbeiführen. Christa Wolf ist eine von ihnen. Es macht mir Gänsehaut, sie zu hören. Wie ihr für einen Moment fast die Stimme bricht, überwältigt von dem, was sie hier und jetzt leiblich erlebt: Die Worte gehen ihr frei von den Lippen. 
Wer hat sie befreit? Christa Wolf nennt es die "revolutionäre Bewegung". Sagen wir‘s einfacher: Es waren die Einzelnen, die sich das Wort genommen haben. Und dann gemerkt haben, dass sie nicht nur Einzelne sind, dass sie mehr, dass sie viele werden. 
Aber frei reden ist nicht wie Bonbons lutschen. 

O-Ton Christa Wolf 
So viel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander gere-det worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit so viel Zorn und Trauer, aber auch mit so viel Hoffnung. Wir wollen jeden Tag nutzen; wir schlafen nicht oder wenig; wir befreunden uns mit Menschen, die wir vorher nicht kannten, und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen, die wir zu kennen glaubten. Das nennt sich nun Dialog. 

Schon in diesen enthusiastischen Tagen des Aufbruchs in die Demokratie hat Christa Wolf erfah-ren, wie mühsam und schmerzhaft es oft ist, miteinander zu reden. Es schafft Freundschaften und zerstört andere. Es schafft Vertrauen, aber auch tiefes Misstrauen. Demokratie ist extrem anstrengend. Einige könnten das Wort Dialog schon nicht mehr hören, sagt Christa Wolf. 

O-Ton Christa Wolf 
In diesem Zwiespalt befindet sich nun unser ganzes Land. Wir wissen, wir müssen die Kunst üben, den Zwiespalt nicht in Konfrontation ausarten zu lassen. Diese Wochen, diese Möglich-keiten werden uns nur ein Mal gegeben. Durch uns selbst!

Das war vor 35 Jahren. Aber es gilt weiterhin. Die Kunst, den Zwiespalt nicht in Konfrontation ausarten zu lassen, müssen wir im geeinten Deutschland wieder und wieder lernen. Ohne den Enthusiasmus von damals, mit der Ernüchterung von heute. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass das möglich ist. Denn am Anfang war und ist das Wort, und jedes freie Wort kann ein An-fang sein. Jedes solidarische Wort macht einen Unterschied zum Hass. Jedes wahre Wort macht einen Unterschied zur Lüge. Jedes nachdenkliche Wort macht einen Unterschied zum Geschwätz. 
So etwas wie den Mauerfall erlebt man wahrscheinlich nur einmal im Leben. Aber die Möglich-keit zum wahrhaftigen, liebevollen Wort ist jeden Tag gegeben. Durch uns selbst. Heute.

Es gilt das gesprochene Wort.


Literaturangaben:
(1)    Christa Wolf auf der Kundgebung der Künstler und Kunstschaffenden auf dem Alexanderplatz in Berlin, 4.11.1989 © Erbengemeinschaft nach Christa Wolf, vertreten durch die Gustav Kiepenheu-er Bühnenvertriebs-GmbH, Berlin
aus: Jahrhundertstimmen 1945-2000 - Deutsche Geschichte in über 400 Originalaufnahmen, er-schienen im Hörverlag 2023
Der Audiotext ist von der Autorin nach dem Tondokument verschriftlicht worden. Die Interpunktion weicht also wahrscheinlich vom Original des Redemanuskripts ab.

 

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