Die Mutter der Autorin stürzt. Mit 82 Jahren, allein, in ihrem Haus. Sofort sind sie da. Ihre Nachbarn – und werkeln, eilen, helfen, trösten, sichten die Post, chauffieren und kümmern sich.
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Wie ein Käfer, der nicht auf die Beine kommt, liegt meine Mutter hilflos im Dreck. Sie ist mit ihren 82 Jahren böse gestürzt vor ihrem kleinen Haus, in dem sie allein lebt. Aber sie ist nicht allein. Sofort sind sie da – Therese, die nebenan im Garten werkelt und herbeieilt. Nachbar Wilhelm, der alles stehen und liegen lässt, um zu helfen. Sie richten auf, trösten, rufen den Krankenwagen. So geht das weiter in den nächsten Wochen, denn Mutters Ellbogen ist kompliziert gebrochen. Elke von nebenan gießt die Blumen, sichtet die Post, zieht die Rollläden am Morgen hoch und lässt sie am Abend runter. Die alte Freundin Monika wird zur Chauffeurin. Die Geschwister Edelgard und Mecki kommen, nachdem sie in den eigenen Beeten gearbeitet haben, schnell mal angefahren in ihrer Gartenkluft und kümmern sich um Mutters Beete. Die Nichten und Neffen stehen parat, reparieren dies und das. Die Kirchengemeinde kümmert sich, holt Mutter ab zu Mittagstisch, Gottesdienst oder Konzert.
So ist das da. Immer. Und wenn’s richtig drauf ankommt, besonders. Da wird sich gefreut mit den Fröhlichen. Da feiert man zusammen, wenn es was zu feiern gibt. Da wird geweint mit den Weinenden. Da geht man selbstverständlich mit zur Beerdigung, wenn der Heinz oder die Gerda stirbt. Da brät man ein paar Reibekuchen mehr und lädt den verwitweten Nachbarn dazu ein. Da klagt man sein Leid, wenn man’s gerade schwer hat, und geht dann etwas getrösteter weiter. Klar, da wird auch ordentlich getratscht, wenn es was zu tratschen gibt, und da wird gemunkelt, wenn es was zu munkeln gibt. Wäre ja langweilig sonst. Aber im Grunde sind sie alle auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Sie trachten nicht nach hohen Dingen. Sie halten sich zu den niedrigen, zu den ganz alltäglichen, zu den kleinen großen Dingen, die so wichtig sind, um sich sicher zu fühlen und geborgen und heimatlich. Auch wenn sie sich mal streiten, das kommt natürlich vor – nach Möglichkeit, soviel an ihnen liegt, halten sie Frieden. Sie haben keine Lust auf Zank, weil sie eine Ahnung davon haben, wie angewiesen sie aufeinander sind.
Als ob der Apostel Paulus eine Vision meines Heimatdorfes vor Augen hatte, als er vor 2000 Jahren schrieb: Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. Seid auf Einigkeit miteinander aus. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug. Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden. (Römer 12, 15-18)
Nein, ich erzähle nicht von einer Insel der Seligen oder aus dem Wolkenkuckucksheim. Ich berichte aus dem ganz normalen Leben, wie es in meinem Heimatort stattfindet. Und wie es sich von Aachen bis Zittau und von Flensburg bis Füssen täglich ereignet. Das große Zusammenhalten über alle Meinungen, politischen Farben und Ansichten hinweg. Diese Solidarität findet in der analogen Welt statt, da, wo man den Hilferuf der Nachbarn hört, ihren Tränen das eigene Taschentuch hinhält und das Glück in der geteilten Geburtstagstorte schmeckt. Da, wo der Andere erstmal ein Mensch ist und erst danach ein Linker oder ein Rechter, eine Deutsche oder eine Ausländerin, ein Hetero oder ein Homo, eine Christin oder eine Muslimin oder noch irgendwie anders- oder gar nicht gläubig ist.
Ich vergesse oft, dass dieser Gemeinsinn, diese tausend und abertausendfach praktizierte selbstverständliche Nächstenliebe, einfach, weil der Mensch ein Mensch ist, viel größer ist als die Spaltung und der Hass und das Aufeinanderlosgehen. Und mindestens genauso real.
Ich hab es nach dem Unfall meiner Mutter gerade wieder erlebt. Es ist gar nicht so schwer; es macht sogar glücklich.
Es gilt das gesprochene Wort.
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