Irgendwo blüht der Jasmin
von Pfarrerin Silke Niemeyer
23.07.2024 06:20
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung zum Nachlesen

Juli! Es ist wieder die Zeit, da kann es passieren: Unversehens wirst du für einen Moment von einem betörenden Duft umhüllt, wirst weggetragen ins Paradies. Ich bin sicher: Im Paradies riecht es nach Jasmin. Wenn mich so eine Jasminwolke findet und mich aufnimmt, dann denke ich an Etty Hillesum. Und an das, was sie an einem Julitag in ihr Tagebuch geschrieben hat:

 

"Der Jasmin hinter dem Haus ist jetzt ganz zerzaust vom Regen und den Stürmen der letzten Tage, die weißen Blüten treiben verstreut in den schmutzigen schwarzen Pfützen auf dem niedrigen Garagendach. Aber irgendwo in mir blüht der Jasmin unaufhörlich weiter, genauso überschwänglich und zart, wie er immer geblüht hat. Und sein Duft verbreitet sich um deinen Wohnsitz in meinem Inneren, mein Gott. Du siehst, ich sorge gut für dich. Ich bringe dir nicht nur meine Tränen und ängstlichen Vermutungen dar, ich bringe dir an diesem stürmischen, grauen Sonntagmorgen sogar duftenden Jasmin." (1)

 

Etty ist 28, als sie das schreibt, Jüdin, Sozialistin, studierte Juristin. Knapp anderthalb Jahre später ist sie tot. Sie hockt in Amsterdam in Furcht, dass sie über Westerbork nach Auschwitz deportiert wird. Und schreibt vom Jasmin, der in ihr blüht! Und von Gott, für den sie gut sorgt und dem sie die duftenden Blüten schenkt. Jedes Mal, wenn ich ihre Zeilen lese, macht mich das fassungslos. Ich könnte das nicht. Nein, das könnte ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt ein Wort für Gott hätte in so einer Lage, oder ob er nicht gestorben wäre für mich. Und wenn, dann würde ich ihn wohl anschreien: Sorg du für mich! Rette mich. Verlass mich nicht.

 

Sie aber schreibt:

 

"Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: (...) Es ist das Einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. (...) Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen."

 

Etty Hillesums Worte haben in ihrer Unglaublichkeit eine Kraft, die überwältigend ist. Eben weil sie nicht von einer hohen Theologie herabkommen, sondern aus tiefstem Seelengrund aufsteigen, ganz ehrlich, ganz einfach, aus Liebe zum Leben, aus Menschlichkeit. Man darf keine Lehre, keine Moral aus ihren Sätzen ziehen. Aber über sie staunen, das ist für mich ein Gottesgeschenk. Der Jasmin blüht. Wie sein Duft umgibt mich Ettys Gebet.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Literaturangaben:

  1. Die Texte sind entnommen aus: Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941–1943,  erschienen im Herder Verlag, Freiburg 2022, S. 208-210
  1.  

Sendungen von Pfarrerin Silke Niemeyer