Liebe statt Furcht

Gottesdienst
Liebe statt Furcht
Rundfunkgottesdienst aus der Protestantischen Stadtkirche in Homburg
02.04.2017 - 10:05
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„Als mein Vater mit dem Bau des Altars begann / sah er nur einmal über die Schulter / er wusste, ich würde mich nicht verstecken. // Du, der du jetzt Altäre baust / um diese Kinder zu opfern / du musst es nicht mehr tun / ein schlimmer Plan ist keine Vision / und niemals bist du versucht worden / von einem Dämon oder einem Gott //…“

 

So singt der kürzlich verstorbene kanadische Singer und Songwriter Leonard Cohen in seinem Lied „The story of Isaac“. Er bezieht sich darin auf die so genannte „Opferung Isaaks“, erzählt in der Bibel im Alten Testament. Darin erhält Abraham von Gott den Auftrag, seinen Sohn Isaak zu opfern. Willens diesen Auftrag zu erfüllen, wird Abraham erst kurz vor der Opferung von einem Engel daran gehindert. Die Geschichte ist sperrig. Sie passt auf Anhieb nicht so recht zu vielen anderen biblischen Erzählungen und Texten, die vom „lieben“ Gott sprechen, wie der Volksmund ihn gerne nennt. Es ist eine Geschichte, deren Auslegung schon von Beginn an zu Kontroversen geführt hat. Ihre Auslegung durch den Jakobusbrief im Neuen Testament erzürnte den Reformator Martin Luther so sehr, dass er in Bezug auf den Brief von einer „strohernen Epistel“ gesprochen hat. Wie weit geht der Gehorsam gegenüber einer höheren Autorität? Wie weit muss er gehen? Wie weit darf er gehen und ab wann ist statt Gehorsam Widerstand gefordert?  Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Radiokirche aus der Protestantischen Stadtkirche in Homburg.

 

Die Kirche ist Pfarrkirche der Protestantischen Kirchengemeinde Homburg im gleichnamigen Kirchenbezirk der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche). Ihre Geschichte beginnt Ende des 17. Jahrhunderts. Damals wurde die Kapelle des Homburger Friedhofs in eine gotische Hallenkirche umgebaut. Nach der pfälzischen Union von Reformierten und Lutheranern im Jahre 1818 wurde die Hallenkirche zu klein und schließlich 1870 abgerissen. Einzig den Turm ließ man stehen.

In den Folgejahren kam es dann zum Neubau des Kirchenschiffes. Nachdem ein Fliegerangriff die Kirche im März 1945 stark zerstört hatte, wurde die Kirche nach grundlegender Restaurierung im Jahr 1949 wieder eingeweiht. 2003 wurde die Kirche letztmalig restauriert.

 

Predigt

Schriftlesung:

 

7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?

8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander.

9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz

10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete. 11 Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich.

12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deinen einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.

13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.

 

 

Er macht es wirklich. Er hat seinen eigenen Sohn auf den Altar gelegt. Hat ihn erst schön das Holz tragen

lassen und ihn dann gefesselt und schließlich oben auf das Holz gelegt. Er hat es wirklich gemacht. Dieser Abraham nimmt scheinbar alles auf sich. Aber er ist wie in einem Tunnel. Er sieht nicht, worauf es ankommt. So oft schon hat Gott ihn geprüft. Aber glaubt er wirklich, dass Gott so etwas von ihm fordern würde? Dass er diesen Sohn opfert? Gott, der ihm eine große Nachkommenschaft verheißen hat? Wo sollte denn diese Nachkommen-schaft herkommen, wenn er seinen einzigen Sohn tötete?

 

Glaubt er, Gott schenkt ihm und seiner Frau noch einen Sohn? In diesem hohen Alter? Es ist eine entscheidende Situation, im wahrsten Sinne des Wortes: Für Abraham geht es darum, eine Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung: Was muss ich tun? Und was darf ich nicht? Die zwei ethischen Grundfragen. Abraham, Abraham. Alle vorherigen Prüfungen hast Du bestanden. Aber hier scheinst Du durchzufallen.

 

Zugegeben. Gott hat es ihm schwer gemacht. Nicht als „der HErr“ hat er sich zu Beginn dieser Prüfung vorgestellt, sondern allgemein als die Gottheit“. Das war missverständlich. Es klingt düster und bedrohlich. Zumindest düsterer und bedrohlicher als Abraham ihn sonst kennt. Mit dem Herrn hatte er schon Erfahrungen gemacht. Positive Erfahrungen. Hatte seine Verheißungen gehört und geglaubt. „Die Gottheit“ dagegen hat ihm den Blick vernebelt.

 

Was hat ihn so sicher gemacht, dass es die Stimme Gottes war, die ihm dieses Opfer abverlangt? Und was hat sein Herz gesagt? Oder hat er – wie so viele Männer – verlernt auf sein Herz zu hören?

 

Er sieht nicht, dass es gar nicht um die Opferung geht, sondern um eine Erkenntnis. Gott sieht, was mit Abraham los ist. Er sieht seinen Schmerz, seinen Kummer, seine Verzweiflung und seine Schuld.

 

Deshalb schickt er ihm jetzt mich, einen Engel. Um das Leben Isaaks zu retten und ihn zur Erkenntnis zu führen. Er soll sehen. Sehen, was Gott von ihm will und sehen, dass er kein Opfer möchte.

 

Aber Ich kann Dir eins versprechen: tröste Dich, Abraham.

 

Der Nebel, der Dich umgeben hat, der wird nach Dir noch viele, viele andere Menschen umgeben. Wenn eine höhere Autorität ins Spiel kommt und etwas von Ihnen verlangt, fällt es vielen schwer, den Durchblick zu behalten.

 

Dann ist Gehorsam viel wichtiger als Mitleid, Barmherzigkeit, Liebe und all diese Dinge, die einen Menschen zum Menschen machen.

 

Lass mich, o Herr, in allen Dingen auf deinen Willen sehn und dir mich weihn; gib selbst das Wollen und Vollbringen und lass mein Herz dir ganz geheiligt sein. Nimm meinen Leib und Geist zum Opfer hin; dein, Herr, ist alles, was ich hab und bin.

 

Gib meinem Glauben Mut und Stärke und lass ihn in der Liebe tätig sein, dass man an seinen Früchten merke, er sei kein eitler Traum und falscher Schein. Er stärke mich in meiner Pilgerschaft und gebe mir zum Kampf und Siege Kraft.

 

Lass mich, solang ich hier soll leben, in gut und bösen Tagen sein vergnügt und deinem Willen mich ergeben, der mir zum Besten alles weislich fügt; gib Furcht und Demut, wann du mich beglückst, Geduld und Trost, wann du mir Trübsal schickst.

 

Ach, hilf mir beten, wachen, ringen, so will ich dir, wenn ich den Lauf vollbracht, stets Dank und Ruhm und Ehre bringen, dir, der du alles hast so wohl gemacht. Dann werd ich heilig, rein und dir geweiht, dein Lob verkündigen in Ewigkeit.

 

Schriftlesung:

 

14 Und Abraham nannte die Stätte »Der HERR sieht«. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sieht.

15 Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her

16 und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont,

17 will ich dein Geschlecht segnen und mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen;

18 und durch dein Geschlecht sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast.

19 So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba und Abraham blieb daselbst.

 

Wie weit kann ein Mensch gehen?

 

Wozu ist er fähig, wenn eine höhere Autorität ins Spiel kommt? Dazu machen wir einen Zeitsprung.

 

Von Abraham geht es rund 3500 Jahre in die Zukunft, nämlich ins Jahr 1961. In diesem Jahr führt der amerikanische Psychologe Stanley Milgram ein Experiment durch. Per Zeitungsannonce werden College-Absolventen gesucht, um jeweils paarweise an einer Studie zum Thema „Lernen“ teilzunehmen.

 

Die Kernthese lautet: In Individuum lernt umso besser, je mehr es fürchten muss, für etwaige Fehler bestraft zu werden.

 

Ein Proband ist in diesem Experiment der Lehrer, der andere der Schüler. Letzterer wird mit Elektroden verbunden auf einem Stuhl festgeschnellt. Der Lehrer nimmt ihm gegenüber hinter einem Pult Platz.

 

In dem französischen Film „I wie Ikarus“ ist dieses Experiment nachgestellt worden. Wir hören im Folgenden Ausschnitte aus dem Film. Zunächst erläutert der leitende Professor das procedere:

Das Prinzip dieses Experiments ist im Grunde genommen ganz einfach. Hier ist eine Liste von 30 Worten. Jedes korrespondiert mit einem Adjektiv. Himmel – blau. Tier – wild. Wind – heftig usw. Monsieur Despaul, Sie werden Monsieur Ribuly diese 30 Wortpaare vorlesen. Dann werden Sie ihm nur noch das Adjektiv vorlesen und er muss Ihnen aus dem Gedächtnis sagen, mit welchem Wort dieses Adjektiv korrespondiert.

 

Ah ja. Ich habe verstanden. Wenn ich zum Beispiel das Wort „blau“ vorlese, muss er antworten mit dem Wort „Himmel“. Wenn ich sage „wild“ muss er sagen „Tier“. Wenn ich sage „heftig“ muss er sagen „Wind“.

 

Sie haben das sehr gut verstanden. Und jedes Mal, wenn Monsieur Ribuly etwas Falsches sagt, müssen Sie ihn bestrafen. Wenn Sie einen diesen Regler hochschieben, bekommt er einen elektrischen Schlag. Beim ersten Fehler einen Schlag von 15 Volt, beim zweiten 30, beim dritten 45 usw. Wie Sie sehen, sind das jeweils Stufen zu 15 Volt, die sich addieren, wenn man mehrere Regler hochschiebt. Und jetzt, Monsieur Despaul, lesen Sie bitte ihrem Schüler die Wortpaare vor.

 

Gesagt, getan. 30 Wortpaare, immer bestehend aus einem Adjektiv und einem dazu passenden Substantiv bekommt der Schüler vom Lehrer vorgelesen. Dann beginnt der Lehrer mit dem Test:

 

Das erste Wort heißt blau.

 

Himmel! Himmel – blau.

 

Richtig. Das folgende Wort heißt wild. Gelächter. Gelächter – wild.

 

Nein, das war falsch. Die richtige Antwort ist in diesem Fall Tier. 15 Volt.

 

Der leitende Professor beobachtet das Experiment hinter einer Scheibe in einem Nebenraum. Zusammen mit einem Gast. Ihm erklärt der Professor Sinn und Zweck des Experiments. Es geht dabei nämlich überhaupt nicht um das Lernen. Im Zentrum steht der Lehrer:

Uns interessiert die Fähigkeit zum absoluten Gehorsam bei Monsieur Despaul, seine Unterordnung unter eine Autorität. Für Monsieur Despaul wird diese Autorität durch die Universität verkörpert, durch Professor Ayuse und durch mich. Unsere weißen Kittel sind die Symbole dieser Autorität. Wir haben ihm befohlen, einen Menschen, der ihm nichts getan hat, nach einem bestimmten Ritus zu bestrafen. Wie lang wird er diesen schwachsinnigen Befehl ausführen und wann wird er sich gegen die auflehnen, die ihm das befohlen haben? Das ist das Problem. Nur das.

 

Für den Schüler, der in Wahrheit gar kein Proband sondern ebenfalls ein Wissenschaftler ist, liegt das Problem eher in der steigenden Voltzahl der Stromstöße, die scheinbar bekommt. 30 Volt, 45, Volt, 60 Volt undsoweiter, undsoweiter. Für den Professor im Nebenzimmer wird es im Grunde nun erst richtig interessant.

 

Irgendwann kommt das Experiment an einen Punkt, an dem sich Monsieur Despaul mit einem Problem auseinandersetzen muss. Soll er das Experiment fortführen und der Autorität gehorchen oder soll er aufhören, weil er sein Opfer nicht mehr leiden lassen will?

 

Despaul wird mehr und mehr von einem inneren Konflikt erschüttert, der fast unerträglich ist. Wenn er diesen Konflikt lösen will, muss er mit der Autorität brechen und den Gehorsam verweigern.

 

Der vermeintliche Schüler schreit mittlerweile vor Schmerzen. Als sich eine der Elektroden seiner Haut löst, muss der Lehrer sie nach entsprechender Aufforderung neu befestigen. Dabei sieht er dem Schüler aus naher Distanz in die Augen und berührt seine Haut.

 

Als der Schüler anschließend um Gnade fleht, will der Lehrer nicht mehr weitermachen.

 

Ich flehe Sie an, Monsieur! Hören Sie auf!

 

Sie sollten sich lieber konzentrieren und nicht einfach irgendwas antworten. Wenn bloß endlich Schluss wäre, ich habe auch keine Lust mehr, weiterzumachen.

 

Doch so einfach ist das nicht. Denn: Sollte der Lehrer aufhören, wäre das gleichzeitig ein Schuldeingeständnis. Er würde damit anerkennen, dass alles, was er bisher getan hat, Unrecht war. Wenn der Lehrer dagegen weitermacht, rechtfertigt er damit das, was er bisher getan hat. Das Weitermachen fällt ihm jedoch zunehmend schwer. Besonders, als der Schüler nicht mehr antwortet. Hilfesuchend wendet sich der Lehrer an den Wissenschaftler, der das Experiment im selben Raum wie Lehrer und Schüler überwacht:

Aber er antwortet doch nicht mehr. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen, Sie sollten mal nachsehen.

 

Ob das dem Schüler gefällt oder nicht – wir müssen weitermachen. Und zwar solange, bis er die Wortpaare auswendig weiß.

 

Hey, Monsieur, verstehen Sie mich? Das Wort heißt „weiß“!

 

Ich will nicht mehr antworten.

 

Was macht man jetzt?

 

Sein Schweigen müssen Sie als Fehler einordnen. Geben Sie ihm also 180 Volt!

 

Aber er fühlt sich schlecht, ich habe Angst, dass das schiefgeht.

 

Ich übernehme die volle Verantwortung.

 

Na gut, wenn Sie die Verantwortung übernehme.

 

Aaaaaah!

 

 

Das Ergebnis des Milgram-Experiments: Insgesamt sind 65 Prozent der Probanden bereit, dem Schüler einen potentiell tödlichen Stromstoß zu geben.

 

Warum ist das so? Warum werfen Menschen in solchen Situationen alles über Bord, was sie an Güte, Erbarmen, Mitgefühl und Nächstenliebe in sich tragen – und unterwerfen sich der Autorität?

 

Im Film werden ein paar Antworten gegeben. Ein Abbruch des Experiments durch den Lehrer würde bedeuten: Er gibt zu, dass alles, was er vorher gemacht hat, falsch war. Dabei hat er aber doch nur auf das gehört, was er nach Anweisung der Autorität – in diesem Fall der Männer in weißen Kitteln, der Professoren und Vertreter der Wissenschaft, getan hat. Sein eigenes Urteilsvermögen, die Einsicht, dass er verantwortlich ist für sein Tun, wird in dem Moment außer Kraft gesetzt, als einer der Professoren sagt: „Ich übernehme die volle Verantwortung“. Und das Experiment nimmt weiter seinen Lauf …

 

Geht es Abraham nicht ähnlich?

Auf die Nachfrage seines Sohnes nach dem Opfertier, erwidert er: „Gott wird sich das Lamm zum Opfer selbst auser- sehen.“

 

Eine salomonische Antwort, uneindeutig, vielfach interpretierbar: Einerseits verschleiert er damit, wer das wirkliche Opfer ist. Wenn diese Antwort aber nicht ganz und gar zynisch sein soll, dann kann sie nur eine Bedeutung haben:

Am Ende wird sich Gott doch als der Freund, als der Gütige und Barmherzige erweisen, der er bis dahin gewesen ist. Und doch befindet sich Abraham hier auf einem ganz schmalen Grat.

 

Noch ist nicht deutlich, ob Abraham vertraut oder ob er nur die ganze Verantwortung bei Gott lassen will. Mit diesem Satz kann Abraham Gott auch die Schuld geben für alles, was passiert. Er hat nur gehorcht.

 

Dass solches Gehorchen allerdings nicht ohne Folgen bleibt, zeigt nicht nur der Proband im Film, es ist auch an Abraham abzulesen. Wir sehen einen verstummten Menschen vor uns.

 

Auf jede Anrede sagt Abraham nur „Ja“, dann verstummt er. Er fragt nicht nach, er hinterfragt nicht. Er folgt den Anweisungen. Fast mechanisch und scheinbar emotionslos, als wäre er nicht bei sich selbst, sondern als handelte ein anderer in ihm. In dichter Aufzählung wird das beschrieben, als ob eine Uhr tickt für die Zeit, die abläuft.

 

Hat ihm das Entsetzen den Mund verschlossen? Hat der Schmerz seine Seele taub gemacht? So, wie Kinder, die aufhören zu schreien, weil sie allzu lange geschlagen wurden.

 

Wie die verschleppten und vergewaltigten Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten, die keine Sprache finden für das, was in ihnen angetan wurde, wie Elternpaare, die nach dem Tod eines Kindes keine Worte haben um miteinander trauern zu können…

Zweifellos wird in dem, was auf dem Weg geschieht, die Beschädigung einer menschlichen Seele sichtbar. Man könnte sagen, hier wird die traumatische Erfahrung eines Menschen literarisch in Szene gesetzt, die Lähmung der Gefühle, das Schweigen, das sich auch auf den Sohn überträgt. Schweigsam gehen sie miteinander. Nur einmal wird das Schweigen, die Kontaktlosigkeit unterbrochen, als Isaak Abraham anruft: „Mein Vater!“ Da antwortet dieser: „Hier bin ich, mein Sohn.“

 

Von Angesicht zu Angesicht wird die Verletzlichkeit des Anderen nun besonders sichtbar. Anonym zu töten, in die Menge zu schießen, einen LKW in eine Menschenmenge zu steuern ist das Eine. Aber dem Anderen von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, das bedeutet eigentlich nicht töten zu können.

 

Auch beim Milgram-Experiment ist das der Punkt, an dem sich der innere Konflikt für den Probanden zuspitzt. Er muss dem Schüler die abgerissene Elektrode selbst wieder anlegen, muss ihm gegenübertreten, ja, ihn sogar anfassen – und dann gibt er zu, dass er nicht mehr weiter machen will. Trotzdem fügt er sich.

 

Für Abraham ist es nicht einfach der Andere, das Gegenüber, sondern das geliebte Kind. „Nimm deinen Sohn, den du liebst“, das war die Aufforderung gewesen – ganz am Anfang.

 

Doch Abraham kann nicht mehr unterscheiden. Gott hat sich ihm verborgen. Seinganzes Verhalten trägt Anzeichen dafür, dass Gott ihm unkenntlich geworden ist. Der Kontakt zu ihm ist abgerissen. Auf diesem ungeheuerlichen Weg ist Abraham Gott abhanden gekommen. Was jetzt in ihm regiert ist nur noch Furcht.

 

Und dann beginnt die Uhr wieder zu ticken, der Dialog bricht ab – und auch der Blickkontakt. Die Handlung schreitet weiter fort – bis die Katastrophe bevorsteht – und Gott schließlich durch einen Engel eingreift.

 

„Jetzt weiß ich, dass du fürchtest.“ lässt Gott den Engel sagen. Abraham hatte gefürchtet, wo er lieben sollte. Nicht die Liebe hat ihn getrieben, sondern die Furcht.

 

Wie oft treibt Menschen die Furcht, gehorchen sie einer inneren Stimme, de von der Furcht inspiriert die Liebe opfert. Von der Furcht, das Falsche zu tun, zu kurz zu kommen, zu versagen, den Ansprüchen anderer nicht zu genügen. Von der Furcht, verantwortlich gemacht zu werden und die Folgen eigenen Handelns tragen zu müssen.

 

Gott prüft nicht, ob Abraham gehorsam ist. Er prüft, ob Abraham liebt. ER will wissen, wie weit seine Liebe geht.

 

Und er zeigt ihm zugleich, dass seine Liebe weitergeht als alle menschliche Furcht. Und nun bewahrheitet sich, was Abraham vielleicht doch insgeheim gehofft, worauf er vertraut hat: dass Gott wider seinen eigenen Befehl handelt und rettet. Dass er sich am Ende als der zeigt, den Abraham einmal gekannt hat.

 

Und dann gehen Abraham die Augen auf. Er blickt nach oben und sieht in die Augen Gott und erkennt, dass Gott nicht den Tod will, sondern das Leben.

 

Das ist hier gemeint: Gott sieht. Gott sieht, wo wir nichts mehr sehen, keinen Ausweg, sondern im Tunnelblick gefangen meinen, der Logik unserer Furcht folgen zu müssen – und dann alles aus dem Blick verlieren, was dem Leben dient. Dann wird der Ruf nach einer höheren Autorität laut, nach einer starken Führungsperson – wie wir es in der Geschichte schon oft erlebt haben – und gerade wieder erleben.

 

Deshalb ist diese uralte Erzählung nicht nur brandaktuell, sondern auch eine Mahnung, eine Aufforderung an uns heute. Wenn wir vor dem Unbegreiflichen stehen, wenn uns Sinnlosigkeit anfällt und uns der Gott, dem wir vertraut haben, den wir zu verstehen glaubten, abhanden kommt, dann auf Abraham zu schauen. Nicht weil er ein Glaubensheld ist, sondern weil er in die Gottlosigkeit geworfen wird und trotzdem erleben darf, dass aus dem furchtbaren Götzen, den er da erlebt hat, wieder der liebende Freund wird.

 

Das kann uns trösten und Hoffnung schenken und den Mut, der Liebe den Vorrang zu geben vor aller Furcht. Denn Furcht ist nicht in der Liebe. Amen.