Ver-rückte Weihnachten

Liebfrauenkirche Bremen
Ver-rückte Weihnachten
Evangelischer Rundfunkgottesdienst aus der Liebfrauenkirche Bremen
24.12.2017 - 17:05
13.12.2017
Pastor Stephan Kreutz
Über die Sendung

 

Im Gottesdienst am Heiligabend aus der Bremer Citykirche Unser Lieben Frauen geht es um die „ver-rückte Welt“ an Weihnachten: Gott ver-rückt mit der Geburt Jesu seine Anwesenheit in die Mitte der Welt. Die ärmlichen Hirten werden vom Rand der Gesellschaft in die Mitte des Geschehens ver-rückt. Die Weisen auf ihrer Suche nach dem neugeborenen König sind sichtbar und spürbar ver-rückt, von einer Lebenswelt in eine andere. Pastor Stephan Kreutz stellt in der Predigt die Frage, was Weihnachten mit einem selbst macht: Wohin ver-rückt mich diese Geschichte vom neugeborenen Gotteskind? Auch die Lektorin Dorina Diesing liest dazu einen Text. 

 

Musikalisch begleitet Kantor Ansgar Müller-Nanninga die Christvesper mit dem renommierten Knabenchor der Gemeinde. Seit 1993 hat der Chor unter seiner Leitung deutschlandweit Erfolge bei Konzerten und Chorwettbewerben feiern können. Es singt der Knabenchor u.a. Werke von Johann Sebastian Bach, John Gardner und Huub Osterhuis. Weitere musikalische Begleitung erfolgt durch den Organisten Roland Dopfer.

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen

Merken wir es eigentlich noch? Wie verrückt diese Geschichte ist?

Alle Jahre wieder hören wir sie.

Und alles steht da wie jedes Jahr:

der Baum im Wohnzimmer,

darunter die Geschenke,

Maria und Josef im Stall und das Kind in der Krippe.

 

In Wirklichkeit gehört nichts dahin. Alles irgendwie verrückt.

Ver-rückt: an einen anderen Ort gerückt.

Ein Baum gehört eigentlich ins Freie,

die Geschenke liegen auf einem Gabentisch besser als auf dem Boden

und Maria und Josef gehören mit ihrem neugeborenen Kind in ein warmes Zuhause.

Irgendwie ganz schön verrückt das alles.

 

In der Weihnachtspredigt geht’s noch weiter: Gott wird Mensch, tönt es da von der Kanzel. Da schütteln alle anderen Religionen den Kopf: das ist verrückt.

Und wenn einer sich Gott auf die Erde denkt, dann groß und erhaben, stattlich und schön. Aber doch nicht in Armut, in Kälte, vertrieben und an den Rand gedrängt.

 

Nach dem Gottesdienst am Heiligen Abend wird es noch verrückter:

Da soll die ganze Familie harmonisch zusammen sein. Nur strahlende Gesichter bitte beim Fest der Liebe. Verrückt, wenn wir es doch das ganze Jahr über manchmal ziemlich schwer miteinander haben. Mit den anderen und manchmal auch mit uns selbst.

 

Und genau das könnte der Grund sein, dass diese Geschichte der Heiligen Nacht so verrückt ist.

Dass Gott sich gerade darum so unerwartet an Orte verrückt, die wir Menschen pausenlos erleben, aber so schwer nur annehmen können.

Abgewiesen wie Maria und Josef,

in Armut geboren wie das Jesuskind,

an den Rand gedrängt wie die Hirten,

auf der Suche wie die weisen Sterndeuter,

voller Angst wie Herodes.

 

Wenn ich ehrlich bin, sind das alles Momente, die ich gut kenne.

Und viele Menschen dieser Welt noch viel mehr als ich.

Denn Armut und Angst spüren Menschen in den Krisengebieten der Erde noch mal ganz anders und viel bedrohlicher.

Es ist und bleibt ein Rätsel um diesen Gott, den wir als Schöpfer der Welt glauben, dass er das Leid und die Angst zulässt.

Jesus hat später gesagt: „In der Welt habt ihr Angst!“. So ist das.

 

Aber genau das reicht Gott wohl nicht. Er im sicheren Licht, in der Klarheit, und wir im Dunkel, in Streit und in Ängsten? Nicht mit ihm, dem Gott des Lebens!

 

Darum, so erzählt die Weihnachtsgeschichte, ist Gott in diese Welt gekommen, um als Mensch unter Menschen neben dem Glück und der Freude, die er uns schenkt, auch das Dunkel, den Streit und die Angst zu erfahren. Und all das Schöne und Schwere des Lebens mit uns zu teilen.

 

Die ganze Jesusgeschichte erzählt davon.

Kaum hat der Junge die Windeln hinter sich gelassen, gibt es Streit mit den Eltern.

Na, das kennen wir doch. Harte Worte fallen, der junge Mann kommt mit dem Gesetz in Konflikt. Er hält sich nicht an die Regeln, die immer schon fraglos galten.

Einfach verrückt ist der – so sagen die Leute.

 

Er redet davon, dass Gott jeden Menschen einzigartig geschaffen hat.

Und ihn genau in dieser Einzigartigkeit liebt.

Er redet davon, dass Liebe die stärkste Macht ist, stärker noch als der Tod.

Und dass die Liebe auf jede Form von Gewalt verzichten kann.

Dass es nicht darum geht, immer stärker und besser und größer zu sein.

Sondern beieinander zu stehen.

Ja zu sich selbst zu sagen mit dem, was man ist und kann und eben auch nicht ist und nicht kann.

Und auch den anderen genau das zuzugestehen.

Und darin die unendliche Fülle zu erleben, an der Gott Freude hat.

Fülle, die da entsteht, wo jede und jeder anders sein darf.

Und gerne auch verrückt!

 

Gott kommt auf die Erde, um unser Licht und unser Dunkel zu teilen.

Dazu verrückt er sich an Weihnachten an einen anderen Ort.

Schluss mit sicherem Himmel, rein ins Getümmel auf der Erde.

 

Und nun?

Sitzen wir jetzt gemeinsam im Schlamassel?

Das darf man ja mal fragen, was mir das nützt, wenn der, den ich stark und mächtig glaube, mir in meine Ohnmacht folgt.

Wäre doch besser, er zieht mich da raus.

 

Da scheinen wir übrigens einer Meinung zu sein, Gott und wir Menschen.

Denn nichts anderes ist Gottes Wille: uns da raus zu ziehen.

Davon erzählt die Geschichte der Heiligen Nacht.

Gott möchte Leben.

Gott möchte Liebe.

Gott möchte Frieden.

Da setzt er alles dran.

 

Und sein Weg ist verrückt.

Vom Himmel auf die Erde und alles wird an einen neuen und ungewohnten Ort gestellt.

 

„Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“, singen wir,

„als wollte er belohnen so richtet er die Welt“.

 

Ich für meinen Teil habe inzwischen verstanden, dass ich Gott nicht erklären kann.

Ich darf es geschehen lassen.

Darf es Weihnachten werden lassen.

Einfach so – mit dem, was ich gerade bin und was ich auch nicht bin.

Muss nicht in den Gottesdienst gehen, damit der liebe Gott sich zu Weihnachten über mich freut, sondern darf hier sitzen, weil Gott mir dienen möchte.

Gottes Dienst an mir. Weil er mich nicht im Dunkeln alleine sitzen lassen möchte.

Darum kommt er, wird geboren im Stall zu Bethlehem und immer wieder da, wo diese Geschichte erzählt wird. So wie heute, an diesem Heiligen Abend, der genau darum zu recht „heilig“ genant wird.

Gott kommt, wird Mensch und nimmt uns Menschen gleichsam an die Hand, uns heraus zu führen aus unserem Dunkel.

 

„In der Welt habt ihr Angst“ – sagt Jesus, „aber seid getrost, seid zuversichtlich: ich habe die Welt überwunden“.

 

Ein schönes Bild entsteht vor meinen Augen:

das Krippenkind verlässt irgendwann den Stall.

Irgendwann habe ich ja auch genug Weihnachten gefeiert.

Jetzt geht es los in den Alltag, in das Leben.

Er nimmt mich an die Hand und führt mich durch das Leben.

Und zeigt mir, wie Liebe so unglaublich viel wertvolles entdecken kann.

In mir, im anderen, überall auf der Welt, in der ganzen Schöpfung.

 

An der Seite des erwachsen werdenden Jesuskindes erkenne ich, wo Regeln und Konventionen – nie hinterfragt – schon lange nicht mehr dem Leben dienen, sondern einengen und mich unfrei machen.

Ja, ich werde jetzt selbst verrückt an neue Orte des Sehens und Erkennens.

Sehe plötzlich mein Leben und diese Welt mit neuen Augen.

Mit Gottes Augen der Liebe.

 

Und vielleicht höre ich ihn ja sagen, den Jesus an meiner Seite:

„Wie wunderbar doch die Liebe zweier Menschen ist. Die Liebe zwischen Mann und Frau, aus der Kinder hervorgehen können.

Und wie ebenso wunderbar ist jede andere Liebe, zwischen Frau und Frau und Mann und Mann. Und der Wunsch der beiden, Verantwortung für Kinder zu übernehmen.“

 

Das mag vielen vielleicht verrückt erscheinen.

Ich höre diesen Jesus sagen: „Das ist Liebe! Das ist Leben!“

Von diesem Jesus an einen anderen Ort des Erkennens und des Verstehens geführt,

weg gerückt von meinen festen Meinungen, erkenne ich: es ist gut so.

So darf es um Gottes Willen sein.

 

Ich merke, dass ich gerne an seiner Hand durch’s Leben gehe. Mich verrücken lasse und dann so Vieles mit neuen Augen entdecke. So viel liebevoller als ich es von mir aus vermag.

Ich muss nicht mehr urteilen, schon gar nicht mehr richten. Ich nehme wahr.

Ich fühle mich hinein. Ich achte, ich spüre, wo Liebe brennt und Leben gestaltet wird und sage „Gott sei Dank“.

Ich lerne mit diesem Jesus, im Streit anders zu reagieren als selber draufzuhauen, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern Hände zu reichen und den ersten Schritt zu wagen. Zaghaft, unsicher vielleicht, aber in dem festen Vertrauen, dass das der Weg aus dem Konflikt sein kann, den ich schon lange vergeblich suche. Verrückt, dass ich ihn hier entdecke.

 

Wenn das so ist, möchte ich oft verrückt werden.

Verrückt in neue Sichtweisen hinein. In ein Tun und genauso in ein Lassen, auf das ich alleine nicht käme.

Ich möchte erleben, wie sich mein Herz weitet.

Und wie meine Umgebung aufatmet, sich entspannt, friedvoller wird.

Ganz ehrlich: mal in dieser Weise verrückt zu werden, weg von den ewig gleichen und fest gemauerten Standpunkten meines bisherigen Lebens, weg von dem „Das war schon immer so“ – das tut unendlich gut.

Und da wird manches wieder gut. Daran glaube ich ganz fest.

 

Vielleicht kann das ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk für uns sein:

nach der Freude über die Geburt im Stall das Jesuskind älter werden zu lassen, zu staunen, wie es Gottes Liebe in die Welt hinein buchstabiert so verrückt und so voller Liebe und neuer Perspektive.

Und ihm darin zu folgen in eine ganz neue Sicht auf das Leben, das Gott uns schenkt.

In diesem Sinne: uns allen eine verrückte Weihnacht!

Amen.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.12.2017
Pastor Stephan Kreutz