Wie lieblich ist der Maien - und andere Lieder für den Wonnemonat

Wie lieblich ist der Maien - und andere Lieder für den Wonnemonat
Rundfunkgottesdienst aus der St. Martinskirche in Markoldendorf
02.05.2021 - 10:05
21.04.2021
Superintendent Jan von Lingen
Über die Sendung

Prediger: Superintendent Jan von Lingen

Predigttext: Lk 19,37-40

Liturgin: Sarah Coenen

Musikalische Leitung: Fritz Baltruweit

Orgel: Stefan Guhl

Keyboard: Valentin Brand

Bass, Perkussion: Sebastian Brand

Harfe, Blockflöte, Perkussion: Konstanze Kuß

Gitarre: Jan von Lingen

Gesang: Birgit Simm

 

 

Gottesdienst nachhören

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Predigt zum Nachlesen
 

Liebe Gemeinde, 

Kantate heißt dieser Sonntag. In der Reihe der Sonntage nach Ostern ist er so schön aufgefä-delt wie eine Perle neben anderen auf einer Perlenkette: Jubilate, Kantate, Rogate heißen die drei aufeinanderfolgenden Sonntage in der österlichen Freudenzeit. Aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt: Jubelt. Singt. Betet. Ein schöner, festlicher Dreiklang zwischen Ostern und Himmelfahrt - eigentlich. Doch in diesem Jahr? 

Jubilate? In diesem Jahr haben wir keinen Anlass zum Jubeln. 
Kantate? Das Singen bleibt uns im Hals stecken. 
Rogate? Da steigt im Gebet eher unsere Klage als unser Dank zum Himmel. 
Von wegen „österliche Freudenzeit“…
Im Corona-Jahr 2021 haben wir eine staatlich verordnete Stille: „Gemeindegesang ist grund-sätzlich untersagt“, heißt es schlicht in den Verordnungen. Mit Recht, denn der Gesundheits-schutz steht an erster Stelle. Die drei Solisten heute sind - wie alle Mitwirkenden - mehrfach getestet und wahren Abstand. Ach, wie schön, dass wenigstens einige Musikerinnen und Musi-ker für den guten Klang sorgen, damit die Lieder nicht ganz verstummen. Denn das dürfen sie nicht. Eine Welt ohne Lieder wäre – ja, was wäre das für eine Welt? 

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen kennen keine Lieder“, so habe ich als Kind im Kanon in der Schule gesungen. Singen - oder Gesang hören - ist für viele Menschen ein Grundbedürfnis und tut einfach gut. Die Wissenschaft weiß längst: Klänge und Töne rei-chen tief in die Seele und fördern die emotionale Intelligenz. Singen löst Glücksgefühle aus und hilft gegen die Angst.  

Ich denke an einen bekannten britischen Musiker, dessen Songs oft im Radio gespielt werden. Was ihm die Musik bedeutet, erzählt er in seiner Biographie - sie hat einen seltsamen Titel: "Broken Music". Kaputte Musik. Er lebte in einer zerrütteten Familie und litt darunter zutiefst. Seine Seele wurde verletzt. Trost gab ihm das Klavier. In der Musik drückte er seinen Schmerz aus - und sie heilte ihn. Heute ist jener Musiker und Komponist mit dem Künstlernamen „Sting“ weltberühmt… 

Heilung durch Musik – das ist eine Erfahrung, die wir auch aus den Psalmen der Bibel kennen, jenen uralten Liedern - nein Liedtexten, denn die alten Melodien sind ja verloren gegangen. Aber die Psalmtexte berühren uns auch heute noch – nach zweieinhalbtausend Jahren. Und wir finden neue Melodien für sie wie für Psalm 139, den wir eingangs gesungen haben: 
Nähme ich Flügel der Morgenröte, 
bliebe am äußersten Meer. 
Schliefe ich ein im Reich der Toten
Würde statt Nacht Licht um mich sein. 
Du bist da, du bist da…

Ein anderer Psalm erklingt im Lukasevangelium, als Jesus in Jerusalem einzieht – wir haben davon im Evangelium gehört:
Gelobt sei, der da kommt, 
der König in dem Namen des Herrn! 
Friede herrscht im Himmel 
und Herrlichkeit in der Höhe. 

Ein Zitat aus den Psalmen, das einen besonderen König preist, ein Hymnus, eine Liturgie der Freude. Die Menschen, die so singen, sehen in Jesus den Messias, der endlich nach Jerusalem einzieht, sie brechen in Jubel aus – und niemand kann ihnen den Mund verbieten, Jesus sagt: „Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien.“ 
Die Freude ist nicht aufzuhalten. Sie findet dann andere Wege, bricht sich Bahn. Ob das auch für unseren Sonntag Kantate gilt, der wohl zum zweiten Mal in der Geschichte der Kirche – wie schon im letzten Jahr - unter dem Motto steht: „Singen verboten“?
Es ist nicht so, dass der Gesang in unseren Kirchen immer festlich wäre und Kantate überall mit Chören oder Musikgruppen gefeiert würde. Der Gemeindegesang ist manchmal auch dürf-tig, natürlich. Und doch schaffen es die alten Choräle und die neuen geistlichen Lieder - ja selbst ein „Corona-Blues“ unserer Zeit - Lebensräume zu eröffnen. Die jüdische Literaturno-belpreisträgerin Nelly Sachs schrieb einmal über die Psalmen, von denen viele auf König David zurückgeführt werden: „Im Mannesjahr maß er, ein Vater der Dichter, in Verzweiflung die Ent-fernung zu Gott aus und baute der Psalmen Nachtherbergen für die Wegwunden.“ 

Psalmen als „Nachtherbergen für die Wegwunden“ – was sind unsere Weg-Wunden in dieser Zeit? Kinder, die ihre Schule nicht mehr von innen sehen. Jugendliche, die keinen Mann-schaftssport treiben dürfen. Alleinstehende ohne Ansprechpartner, denen nur Radio und Fern-seher bleiben - können für sie Lieder tatsächlich zu Herbergen werden? Können Lieder schüt-zen – auch in Wetter und Sturm, selbst in dieser Zeit, in der uns der Wind mächtig um die Ohren weht? In der Corona-Zeit haben viele Künstlerinnen und Künstler Durchhaltehymnen komponiert und zum Klingen gebracht, manche bei sogenannten „Quarantäne“-Konzerten wie bei „Wirbleibenzuhause“-Festivals. In solchen Liedern finden sich Textzeilen wie diese:
Nie stärker als jetzt. 
Und: Machen wir das Beste draus. 
Oder: Wir sind uns näher als je zuvor.
Gut so! Mutmachlieder in Corona-Zeiten - sie sind mehr als eine Notlösung. Sie geben uns eine andere Perspektive, richten uns auf, verbinden uns mit anderen. Das brauchen wir. 
Ich erinnere mich noch an die letzten Proben eines Chores bei uns. Die Sängerinnen und Sän-ger verließen im Spätsommer die Gemeindehäuser und stellten Stühle ins Freie. Und abends, als es dunkel wurde, leuchteten die Stirnlampen am Kopf für die Noten in der Hand. „Glück-würmchenkonzerte“ nannten wir diese stimmungsvollen Ausnahmeproben in der Abenddämme-rung. Tatsächlich und ganz wörtlich wurden die Lieder, die der Chor im Dunkeln mit kleinen Lämpchen vor dem Gemeindehaus probte, zu „Nachtherbergen“. 
Als im Winter dann auch kein Chorgesang im Freien mehr möglich war, zogen viele Musik-schaffende einfach weiter - ins Netz. Nun erleben wir Einzelproben per Videokonferenz oder Filme mit großen Collagen der Singenden von zu Hause aus. Zwischen Kühlschrank und Couch entsteht eine Bühne und in den kleinen Videokacheln verbindet sich eine Chorfamilie. 
So entstehen Lieder als „Nachtherbergen für die Weg-Wunden“ unserer Zeit. 

Und wir? Wir feiern heute verbunden durchs Radio gemeinsam den Gottesdienst „Kantate“. Der Weg war und ist weit und schwer. Manche haben in den vergangenen Monaten einen Weg-gefährten, einen Angehörigen, verloren. Andere sind „verwundet“ durch eine Erkrankung oder durch einen erkrankten Angehörigen. Wieder anderen sind die Füße wund durch den weiten Weg bis hierher. Aber singend oder hörend versuchen wir alle, die Zeit zu bestehen und das Beste aus dem Heute zu machen. Vielleicht sogar mit Worten wie diesen – die wir gleich in einem Lied hören werden: 

Nichts ist geschehn, und doch sing ich ein Lied: 
Heut ist die glückliche Zeit meines Lebens! 
Wenn mir im Licht eine Amsel sprüht, 
so ist’s die von heute und nicht die von morgen. 
Wenn mein Aug ihre Schattenspur sieht, 
so nicht die von gestern und nicht die von morgen. 
Heut ist die glückliche Zeit meines Lebens.

Lieder – besonders Kirchenlieder - können das: uns zum Klingen bringen und uns regelrecht emporschwingen. Ob ein Paul-Gerhardt-Lied, ein Chorsatz zum Frühling, ein Kanon oder der schüchterne und leise Sonntagsgesang einer kleiner werdenden Gemeinde: Geistliche Lieder sind mehr als nur Worte und Töne. In ihnen nähern wir uns Gott. Da stellen wir unsere Ton-Leiter an den Himmel und klettern singend hinauf. 
So hat es schon der Kirchenvater Augustin schon vor 1600 Jahren gesagt. "Wer singt, betet doppelt". Denn wenn wir die Psalmen unserer Zeit singen, steigt in unseren Stimmen etwas zum Himmel auf. Und oft genug kehrt es vom Himmel zu uns zurück... - und erfüllt uns. 
Und die Liebe Gottes, die höher ist, als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. 
AMEN
 

Es gilt das gesprochene Wort.
 

21.04.2021
Superintendent Jan von Lingen