Gott hat den Fremdling lieb

Feiertag
Gott hat den Fremdling lieb
Biblische Herausforderungen zum Umgang mit Fremden
22.01.2017 - 07:05
22.01.2017
Pastor Dietrich Heyde
Über die Sendung

Der Zustrom der Fluchtlinge aus den Krisengebieten der Erde nach Europa ist eine Herausforderung, die Kirche und Gesellschaft bewegt. Was ist aus biblischer Sicht dazu zu sagen?

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Der Zustrom der Flüchtlinge aus den Krisengebieten der Erde nach Europa ist ein Thema, das Kirche und Gesellschaft stark bewegt und herausfordert. Was ist aus biblischer Sicht dazu zu sagen? Wie gehen wir um mit Fremden und Flüchtlingen? In der öffentlichen Diskussion heißt es, die Menschen, die zu uns kommen, müssten sich ändern. Ohne Bereitschaft, sich den hiesigen Verhältnissen anzupassen, ginge es nicht. Nun wird nicht zu Unrecht gefordert, dass keine Parallel-Gesellschaften entstehen dürften. Wenn wir die Flüchtlingsfrage aber als biblische Herausforderung begreifen, dann ist die erste Frage nicht, worin Andere sich zu ändern haben, sondern: Was ist uns aufgetragen? Wo haben wir uns zu ändern, um dem gewachsen zu sein, womit wir es heute zu tun haben und was morgen möglicherweise noch verschärft auf uns zukommt – eine Flüchtlingswelle größten Ausmaßes?

Die Flüchtlinge, die aus anderen Ländern und Kulturen den Weg nach Europa suchen, stellen uns biblisch vor die Frage, ob wir Menschen und Völker, so verschieden wir sind, uns als zusammengehörig, ja, als eine einzige große weltumspannende Familie verstehen können. Wir müssen uns von der Bibel fragen lassen und prüfen, ob uns nicht das Bewusstsein der schöpfungsgemäßen Einheit aller Menschen verloren gegangen ist. Wir haben in unserem Land mehrheitlich noch so etwas wie eine Willkommens-Kultur. Doch wie ist sie begründet? Wo hat sie ihre Wurzeln?

Eben das will der biblische Schöpfungsbericht vermitteln, der eine deutliche Sprache spricht. Gott schuf den Menschen, heißt es. Er schuf ihn als Mann und Frau. Das hebräische Wort für „Mensch“ heißt „Adam“. Nach biblischem Verständnis ist der Mensch von Gott beseelte Erde. „Erde“ heißt hebräisch „adama“. Wer also „Mensch“ sagt, hört „Erde“ mit. Das hebräische Wort „adama“ aber weist uns darauf hin, dass die Erde nicht teilbar ist. „Die Erde ist des Herrn“, stellt der Psalmbeter folgerichtig fest. (Psalm 24,1). Sie gehört Gott. Sie ist sein Eigentum und ist den Menschen nur geliehen, nur auf Zeit anvertraut. Wohl tragen wir Verantwortung für die Erde und müssen vor ihrem Schöpfer einmal Rechenschaft ablegen, wie wir mit Seiner Gabe umgegangen sind. Aber sie gehört den Menschen nicht.

Damit wird deutlich: Wie die Erde eine Einheit, ein Ganzes ist, so auch die Menschen, alle Menschen. Der einzelne Mensch ist untrennbar mit der Gesamtheit verbunden. So gesehen gehören die Menschen aller Kontinente zusammen. Wir sind füreinander verantwortlich. Der einzelne Mensch ist keine Insel, sondern ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen. Jede Abschottung anderen Menschen gegenüber verbietet sich deshalb. Es ist so, wie es in alter rabbinischer Tradition heißt:

 

„Wer einen einzelnen Menschen rettet, rettet die Menschheit.“

 

Eine weitere Konsequenz aus dem Schöpfungsbericht betrifft den Umgang von Mensch zu Mensch: Wenn Gott als Schöpfer aller Menschen (ohne Ausnahme) verstanden wird, dann dürfen wir genetisch unterschiedlich sein und aussehen und von verschiedenen Kulturen und Religionen geprägt sein. Gott ist ein Liebhaber der Vielfalt. Das zeigt die gesamte Schöpfung. Die Vielfalt in der Natur ist Ausdruck der Schönheit Gottes. Gleichwohl sind die Menschen, so verschieden sie sind, eine Einheit – so etwas wie eine versöhnte Verschiedenheit. Wer das erkannt hat, kann unmöglich ein Rassist sein und die Überlegenheit einer Menschengruppe behaupten. Jeder Einzelne für sich und alle zusammen sind Gottes Lieblingspflanzung. Darum darf sich kein Mensch über den anderen erheben. Der Sünde der Überlegenheit, die herrscht, wo Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Andersheit diskriminiert werden, ist entschlossen zu widerstehen.

 

 

Nun gibt es angesichts der vielen Flüchtlinge, die nach Europa bzw. nach Deutschland kommen, Ängste und Sorgen in der Bevölkerung. Nicht nur Ängste und Sorgen, wie alles organisatorisch zu schaffen ist und wie die Integration gelingen kann und zu schaffen ist. Es gibt darüber hinaus noch eine Angst, die tiefer reicht und nicht leicht zu fassen ist – die Angst vor Überfremdung, genauer: die Angst vor dem Fremden als dem ganz Anderen.

Der Auftrieb, den eine Partei, wie die „Alternative für Deutschland“ (AfD) bei den letzten Wahlen hatte, ist ja so etwas wie ein Ventil dieser Ängste und Sorgen. Die müssen ernst genommen werden, gewiss. Ja, aber was steckt dahinter? Wie gehen wir mit der Angst vor dem Fremden um? Zwei Aspekte möchte ich nennen – einen allgemein menschlichen und einen biblisch-theologischen Aspekt.

 Zunächst den allgemein menschlichen Aspekt:

 Man weist ja gern darauf hin, dass jeder Mensch woanders auf dieser Erde, also dort, wo er nicht zu Hause ist, auch ein Fremder ist. Und so könnte man ganz schlicht sagen: Verhalte dich in deinem Land Fremden und Flüchtlingen gegenüber so, wie du selbst woanders auf- und angenommen werden möchtest. Was du willst, dass man dir tue, das bleibe auch Fremden und Flüchtlingen nicht schuldig. Übe Gastfreundschaft! Es kann dann sogar geschehen, wie die biblische Geschichte von Abraham erzählt (1.Mose 18), dass du unwissentlich Engel beherbergst. Biblisch ausgedrückt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Er ist wie du!

Zum biblisch-theologischen Aspekt der Angst vor dem Fremden führt mich ein Zitat aus der Tora, das lautet:

 

„Ihr sollt den Fremdling lieben. (5.Mose 10,19)“

 

Und dann folgt die überraschende Begründung:

 

„Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. (5.Mose 10,19)“

 

In diesem Schriftwort lässt Gott uns wissen, dass wir Menschen uns erinnern sollen. Woran aber?

Kurz gesagt – an eine Befreiungsbewegung! Es wird erzählt, Gott habe das Schreien seines Volkes gehört und sein Elend gesehen. Er hat seine Leiden erkannt und ist herniedergefahren, es aus der Hand der Ägypter zu erretten und in ein Land zu führen, in dem Milch und Honig fließt. Und Mose, Prophet und Mann Gottes, war ausersehen, das geschundene, geknechtete Volk Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten herauszuführen.

Das bedeutet mit anderen Worten: Wem Befreiung zuteil geworden ist, der darf sich nicht so verhalten, als gingen ihn die Menschen, die irgendwo auf dieser Erde unter einem Pharao und Gewalttäter leiden, nichts an. Der Pharao der Geschichte hat viele Gesichter. Mögen Zeit und Umstände sich wandeln. Das Tun von Machtbesessenen und Unterdrückern hat immer dasselbe Muster. Ihm folgen Zerstörung, Tränen, Blut und Tod. Einem Europa, das befreit wurde und seit über siebzig Jahren weitgehend Frieden habe durfte, obliegt es nicht nur, Gewalttätern in den Arm zu fallen. Es steht zugleich in einer untrennbaren Beziehung und Solidarität mit Flüchtlingen und Fremden. Sich zu erinnern aber ist kein Selbstzweck. Treffend heißt es bei dem Philosophen Ernst Bloch:

 

„Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das uns zugleich an das erinnert, was noch zu tun ist.“

 

Das ist der Sinn des Wortes Gottes: Ihr sollt die Fremdlinge lieben, denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Aber dieses Schriftwort enthält noch eine weitere Lehre für uns heute. Wer einem Pharao und Unterdrücker entfliehen will, braucht eine Vision. In der biblischen Weisheit heißt es:

 

„Ohne Vision verkümmert der Mensch. (Sprüche 29,18)“

 

Unsere Seele braucht eine gültige Perspektive und Hoffnung, wenn sie nicht verkümmern will. Was immer zur Asylpolitik der Bundeskanzlerin Angela Merkel sonst noch gesagt werden kann – den Flüchtlingen hat sie mit ihrem beharrlichen Wort von den offenen Grenzen und der Willkommenskultur einen bedeutsamen Dienst erwiesen. Sie hat Männern, Frauen und Kindern eine zeitliche Perspektive aufgezeigt, das Bild einer Zukunft ohne Krieg, Zerstörung und Gewalttat. Es ist ja leider so und statistisch erwiesen, dass junge Menschen vor allem aus kaputten Familien, die ohne Lebens-Perspektive sind, kein Selbstwertgefühl haben und sich gesellschaftlich als Verlierer fühlen. Sie waren und sind der fruchtbare Boden für die Propaganda der Salafisten, neigen zum Extremismus und sind für Gewalttaten besonders anfällig. Es ist zutiefst wahr, dass ohne Vision, ohne tragfähige Perspektive und Hoffnung die Seele verkümmert.

 

 

Es gibt in der Bibel für Flüchtlinge und Fremde, die ihre vom Bürgerkrieg zerstörten Häuser und Städte verlassen mussten, einen merkwürdigen Trost. Der steht im Buch des Propheten Jeremia. Überschrift: Die Zukunft beginnt – mitten in der Katastrophe. Und das ist die Situation:

Jerusalem wird belagert. Der Prophet ist im Gefängnis. Juda steht unmittelbar vor dem Zusammenbruch. In dieser politisch hoffnungslosen Situation erhält Jeremia plötzlich Besuch vom Sohn seines Oheims. Dieser bietet dem Propheten Land zum Kauf an (Jeremia 32). Was für eine Situation: Die Welt erzittert, Himmel und Erde sind in Aufruhr. Und Jeremia, im Gefängnis, beschäftigt sich mit dem Kauf von Land. Wie ist das zu verstehen?

Die Lehre ist wegweisend: Mitten in einer nationalen Katastrophe muss man weiter lernen und lehren, Brot backen und verkaufen, Bäume pflanzen und auf die Zukunft setzen. Man soll nicht das Ende der Katastrophe oder Tragödie abwarten, um dann erst mit dem Bau und Wiederaufbau des Lebens beginnen. Da in der Tiefe muss der Wiederaufbau seinen Anfang nehmen – zeichenhaft noch vor dem Ende! Die Stadt ist belagert, das Volk hat Hunger, Angst geht um und der Prophet ist im Gefängnis, das ist alles wahr. Aber Jeremia kauft Land und macht Verträge. Die Zukunft will beginnen – mitten in der Katastrophe, jeden Augenblick. Sie duldet keinen Aufschub.

Biblisch gesehen besteht danach unsere Aufgabe auch darin, den Flüchtlingen und Fremden Mut und Zuversicht zu geben mit Blick auf ihr eigenes Zuhause, ihre eigene Heimat in Syrien oder Afghanistan und sie zu erinnern, dass die Zukunft auch in ihrem Land beginnen will – mitten in der Katastrophe und Zerstörung. So betrachtet können wir ihnen möglicherweise keinen besseren Dienst erweisen, als ihnen hier eine Ausbildung zu geben für ein Leben und den Aufbau in ihrem eigenen, zerstörten Land.

In diesem gesellschaftlichen Kontext dürfte auch der interreligiöse Dialog eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Ja, die Begegnung mit anderen Glaubensweisen ist für alle Beteiligten eine Chance. Sie kann uns nicht nur helfen, die Religion der Anderen besser zu verstehen, sondern auch unser eigenes Glaubensprofil zu stärken. Wenn der interreligiöse Dialog recht geschieht, ist er ein wesentlicher Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden. Dafür sind allerdings einige grundlegende Voraussetzungen zu schaffen. Eine, vielleicht die wichtigste, betrifft das Verhältnis der Religionen zur Wahrheit. Unter der Überschrift „Die exklusive Haltung der Religionen“ schrieb der Philosoph Martin Buber:

 

„Jede Religion hat ihren Ursprung in einer Offenbarung. Keine Religion ist absolute Wahrheit, keine ist ein auf die Erde herabgekommenes Stück Himmel. Jede Religion ist eine menschliche Wahrheit. Das heißt, sie stellt die Beziehung einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft als solcher zum Absoluten dar.“ (1)

 

 

Jede Religion nur eine menschliche Wahrheit? Das ist gegen den Strich des Selbstverständnisses der Religionen gebürstet. Erhebt nicht jede Glaubensweise den Anspruch, die einzige und absolute Wahrheit zu sein? Und eben keine nur menschliche, sondern die einzig wahre göttliche Wahrheit? Aber genau hier, in diesem Selbstverständnis, liegt der Grund, warum es in der Vergangenheit zu Glaubenskriegen gekommen ist und zu Ausgrenzung und damit auch zu Fluchtbewegungen. Jeder meinte, die absolute, die alleinige Wahrheit zu haben und dafür auch Kriege führen und Gewalt anwenden zu dürfen. Vergessen freilich hatte man in allen religiös motivierten Kriegen Jesu Ablehnung jeglicher Gewalt. Selbst der allerbeste Zweck heiligt nicht die Mittel. Wenn jede Religion, wie Buber sagt, nur eine, nicht die! menschliche Wahrheit ist, wird damit die christliche Wahrheit nicht beliebig? Immerhin sagt Jesus:

 

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich?“ (Johannes 14,6)

 

Was aber bedeutet dieses Wort? Ist es so zu verstehen, dass nur die Christen die Wahrheit haben und ihr Glaube der einzig wahre Glaube ist? Warum hat dann aber Gott, so könnte man immerhin fragen, all die anderen Religionen und Glaubensweisen zugelassen? Was bedeutet ihr Dasein für uns?

Ich versuche eine Antwort aus christlicher Sicht:

Für Jesus ist fraglos sein himmlischer Vater, der lebendige Gott und Schöpfer Himmels und der Erde, die alleinige göttliche Wahrheit. Weil aber Vater und Sohn eins sind, wie die Abschiedsreden Jesu nach dem Evangelisten Johannes deutlich machen, und der Sohn die göttliche Wahrheit seines himmlischen Vaters gelebt hat bis zum Tode am Kreuz, konnte und durfte dort auch Jesus sagen: „Ich bin die Wahrheit!“

Die Wahrheit aber, die Gott selbst ist, kann man nicht haben oder besitzen – so wenig wie man Gott haben oder besitzen kann. Wir Menschen können die Wahrheit immer nur suchen und bezeugen. Eben das geschieht in den Religionen oder Glaubensweisen, die uns gegeben sind. Mag unsere Suche nach der Wahrheit, die allein Gott ist, verschieden sein nach Offenbarung und menschlichem Ausdruck und Zeugnis von dieser Offenbarung – die göttliche Wahrheit, die allen Menschen und Völkern gilt, verbindet uns. Mögen die Akzente, die wir vor Ort und kulturell setzen, unterschiedlich sein, wir sind und bleiben miteinander verbunden. Weil Gott unser aller absolute Wahrheit ist, sind wir in Ihm, dem Schöpfer aller Menschen, eine Einheit, eine versöhnte Verschiedenheit.

In Frage gestellt wird nicht der Offenbarungscharakter einer Religion. Und auch nicht, dass sie Wahrheit ist. In Frage gestellt wird ihre Exklusivität. Ihre Absolutheit. Ihr Anspruch, die alleinige Wahrheit zu sein. Von diesem Anspruch müssen die Religionen abrücken. Buber sagt, worauf es ankommt.

 

„Man muss das Realverhältnis des anderen zur Wahrheit anerkennen; zur Wahrheit, die Gott selbst ist.“ (2)

 

Das aber gelingt nur in der Demut. Ohne Demut lässt sich der interreligiöse Dialog nicht führen. Ohne Demut kann er nicht gelingen. Doch wie kommen wir dahin, das „Realverhältnis des anderen zur Wahrheit“ vorbehaltlos anzuerkennen? Dazu heißt es bei Buber über Juden und Christen – und wir könnten die Muslime hinzudenken:

 

„Sobald es uns Christen und Juden wirklich um Gott selber und nicht bloß um unsere Gottesbilder zu tun ist, sind wir in der Ahnung verbunden, dass das Haus unseres Vaters anders beschaffen ist, als unsere menschlichen Grundrisse meinen.“ (3)

„Nicht indem wir uns jeder um seine Glaubenswirklichkeit drücken, nicht indem wir trotz der Verschiedenheit ein Miteinander erschleichen wollen, wohl aber indem wir unter Anerkennung der Grundverschiedenheit in rückhaltlosem Vertrauen einander mitteilen, was wir wissen von der Einheit dieses Hauses.“ (4)

 

 

Zitate:

(1) Martin Buber, Nachlese, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1966, S.110

(2) Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, Joseph Melzer Verlag, Köln 1963, S.211

(3) Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, a.a.O. S.211

(4) Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, a.a.O. S.563

22.01.2017
Pastor Dietrich Heyde