Ich hoffe, also bin ich

Ich hoffe, also bin ich

Gemeinfrei via unsplash.com (Evan Kirby)

Ich hoffe, also bin ich
Über Zukunft und Zuversicht
20.01.2019 - 07:05
13.12.2018
Jean-Félix Belinga-Belinga
Über die Sendung:

Hoffnung ist eine elementare Lebensenergie. Mit der Hoffnung artikuliere ich mein Lebensgefühl. Mit ihr wird mein Leben erst zu einer Haltung. Was ich tue bekommt einen Sinn, ich stemme mich dagegen, den Lebensmut preiszugeben. Auf der Gegenwart bauen wir das auf, was für uns Zukunft wird. Eine entscheidende Dimension unserer Biografien!

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Sendung nachlesen:

Wie viel Hoffnung, wie viel Zuversicht haben wir in das Jahr 2019 mitgenommen?

Der Zukunftsforscher Horst Opaschowski teilte Ende Dezember nach einer repräsentativen Umfrage mit, dass nur 17 Prozent der Menschen in Deutschland mit großer Zuversicht und Optimismus auf 2019 blickten. In der Tat, der soziale Frieden angesichts der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit macht vielen große Sorgen. Die Kluft zwischen Armen und Reichen nimmt in beängstigender Weise immer weiter zu. Gesinnungen, die die Demokratie bekämpfen, erleben weltweit einen Höhenflug. Hilfsbereitschaft und Menschenfreundlichkeit werden kaum noch ernstgenommen. Die Zerstörung unseres Lebensraums scheint keine Chance gegenüber wirtschaftlichen Interessen zu haben. Umwelt und Klima werden nicht konsequent geschützt. Und die Erkenntnis, dass wir im Interesse unseres Wohlstands enorm zur Zerstörung des Lebensraums beitragen, beschämt uns. Ernüchternde Beobachtungen, die Angst vor der Zukunft erzeugen.

 

Hier könnten wir selbstverständlich nostalgisch in die Vergangenheit zurückblicken, wo ein besseres Zusammenwirken der Kräfte in der Gesellschaft vielleicht zu verzeichnen war. Aber diese Vergangenheit – sollte es sie wirklich gegeben haben – werden wir nie reproduzieren können. Für die Zukunft brauchen wir andere, neue Impulse. Dafür gilt es, unsere Gegenwart anzunehmen mit all ihren Fehlentwicklungen, die wir zu verantworten haben. Die Zukunft lädt uns förmlich ein und will sich von uns gestalten lassen. Hier müssen wir mit Hoffnung antworten, um gangbare Wege zu entwerfen und zu gestalten. Ich hoffe, also bin ich.

Mit dieser Einstellung gehe ich zuversichtlich weiter hinein in das Jahr 2019. Und dafür suche ich Verstärkung und Verbündete im Geist. Ich weiß, dass es sie gibt.

 

 

 

In einer medizinischen Fachzeitschrift wurde 2017 von einem bemerkenswerten Experiment berichtet. Ein Psychologe und ein Herzchirurg, beide Professoren von der Universität Marburg, führten eine bedeutsame Studie an Herzpatientinnen und Herzpatienten durch, Menschen, die auf Bypassoperationen am geöffneten Brustkorb warteten. Ein Teil von ihnen wurde schon im Vorfeld psychologisch intensiv betreut. Ihr Blick richtete sich dabei vor allem auf die Zeit nach der OP. So wurden wunderbare Pläne geschmiedet. Die Patienten konnten sich auf die Gartenarbeit freuen, oder auch auf eine besondere Reise. Sie freuten sich darauf, aktiv in ein ansprechendes Alltagsleben zurückzukehren. Und der Wille dazu wurde in ihnen regelrecht angefeuert. Der andere Teil der Patienten jedoch hatte keine vergleichbare Betreuung und machte auch keine Pläne. Das Ergebnis sechs Monate nach der Operation war, dass es den Patienten, die betreut worden waren, viel besser ging als denen ohne eine solche Begleitung. Und diese Beobachtung konnte sogar an messbaren Daten wie Entzündungswerten oder Stresshormonen festgemacht werden. Die Patientinnen und Patienten, die betreut worden waren, litten weniger an Beschwerden, sie waren körperlich aktiver und fitter als die anderen. Sie erfreuten sich insgesamt einer besseren Lebensqualität.

 

Man kann, ohne den Sachverhalt zu fälschen, die psychologische Betreuung umschreiben, die die Patientinnen und Patienten erhalten hatten. Ihnen war ein hoffnungsvoller Blick jenseits ihrer Operation ermöglicht worden. Ihnen war die Hoffnung auf das gestiftet worden, wonach sie sich sehnten, die Blumen wieder ohne Beschwerden einzupflanzen zum Beispiel oder die Italienreise angstfrei machen zu können.

 

Wie hoch ist also der Anteil dieser Hoffnung am Genesungsprozess der Patienten tatsächlich gewesen? Wie hoch ist der Anteil der Hoffnung, wenn an einem Menschen eine solche Veränderung geschieht?

Die Hoffnung vermag es, unser Leben mit positiven Erwartungen zu verbinden. Sie lässt uns Räume projizieren und ausmalen für das, was wir uns selbst wünschen und was wir anderen wünschen. Hoffnung lässt uns mit Optimismus die Zukunft ein Stück näher an uns heranziehen. Wir können die sonst so ungewisse Zukunft mit warmen Gefühlen verbinden. Wir können sie sogar riechen, sie schmecken. So lässt sich die Hoffnung in vielen Völkern mit einem positiven Lebensgefühl verbinden. Ein Sprichwort, dessen genaue afrikanische Herkunft unbekannt ist, bezeichnet die Hoffnung beispielsweise als „Anker der Welt.“ Im Talmud, einem der bedeutendsten Schriftwerke im Judentum, findet sich die Aussage: „Solange der Mensch lebt, hat er Hoffnung.“ Und als wollte sie zeigen, dass die Hoffnung unsere Existenz sogar bedingt, schrieb die rumänische Königin Carmen Sylva, die im 19. Jahrhundert lebte: „Wenn die Hoffnung uns verlässt, geht sie, unser Grab zu graben.“ Danach erscheint Hoffnung als untrennbar von unserer Existenz. Sie ist eine elementare Lebensenergie für den Menschen.

 

 

Einer meiner liebsten Hoffnungstexte im Alten Testament findet sich im Buch des Propheten Jeremia, im Kapitel 29:

Jeremia spricht seine Worte in eine aufgeladene Situation hinein. Die Empfänger seiner Ansprache befinden sich in der Gefangenschaft in einem fremden Land. Der babylonische König Nebukadnezar hat Israel besiegt und anschließend viele Israeliten nach Mesopotamien verschleppt. Eine Situation, die depressiv macht, demütigt, jegliche Vorstellung einer guten Zukunft raubt. Mit dem Verlust der Heimat gerät die Selbstwahrnehmung entwurzelter Menschen völlig durcheinander. Die vertraute Welt ist weg. Weg das Altgewohnte, weg das Geliebte. Und noch schlimmer: der Verlust greift das religiöse Empfinden der Israeliten an. Hat uns Gott im Stich gelassen, oder sind die Götter der Babylonier womöglich stärker als unser Gott? Orientierungslos irren die verzweifelten Menschen in ihrem Exil. Wer sind wir? Wie geht es mit uns weiter? Wie bekommen wir wieder festen Boden unter den Füßen?

 

Eine solche Situation birgt die Gefahr, dass man anfällig wird für alles, was den Anschein hat zu trösten oder Hoffnung zu stiften. Und vermeintlich tröstende Worte bekamen die Verschleppten zur Genüge gesagt. Man hörte offensichtlich auch Leuten gerne zu, die sich dann als falsche Propheten entpuppten. Es zeigte sich, dass es sich um trügerische, leere Versprechungen handelte, in die Irre führende Träume, die solche falsche Propheten wohl Profit bringend streuten.

 

Gerade in diese Situation hinein fallen die Worte des Propheten Jeremia, Verheißungen, die den Blick aus den ungestillten Sehnsüchten in die belastbare Hoffnung hinaufführen sollen.

4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:

5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;

6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.

7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's euch auch wohl.

8 … Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen!

9 Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt...

10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.

11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.

(Jeremia 29, 1-11)

 

Man muss sich vor Augen stellen, was hier geleistet werden soll: Die Entwurzelung dieser Menschen muss so aufgefangen werden, dass sie wieder ein Gefühl von Heimat bekommen; die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit muss durch ein Gefühl von Frieden ersetzt werden, das Angst und Trauer eindämmt; der Verlust der Identität muss wettgemacht werden, damit Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein wieder zurückkehren und erstarken; die Verzweiflung, die Unterlegenheit, die Desorientierung, all das soll hinweggefegt werden.

 

Überraschenderweise jedoch bringt der Prophet keine Pläne, die den Weg in die ersehnte Heimat öffnen. Keinen Aufruf, zu packen und unter Gottes Führung den Weg heraus aus der Gefangenschaft einzuschlagen. Nein, Jeremia fordert die Israeliten dazu auf, sich mit der Exilsituation zu arrangieren und sich sogar mit ihr zu versöhnen. Aus dem fremden Boden soll nun ein Zuhause werden. Die provisorische Einrichtung muss jetzt gegen ein langfristigeres Einlenken eingetauscht werden. Sie sollen aus der Fremde ihre neue Heimat machen.

 

 

Wie es sich anfühlt, sein Leben provisorisch einzurichten, das ist mir persönlich sehr vertraut. Meine Frau und ich sowie unsere drei Kinder lebten hier in Deutschland zwanzig Jahre mit dem festen, aber unrealistischen Glauben, eines Tages in meine Heimat Kamerun zurückzugehen und uns dort sesshaft zu machen. So ein Lebenskonzept, das aufs Provisorische aufgestellt wird, vergleiche ich mit dem, was ich im letzten Sommer in unserem Garten erlebte: Ein wunderschöner, bunter Schmetterling hatte sich auf ein Rosenblatt gesetzt. Die weißen Rosen im Hintergrund und das Grün darum herum, all das bot ein wundervolles Tableau. Ein ideales Fotomotiv, dachte ich. Also rannte ich ins Haus und holte meine Kamera. Als ich zurückkam, war der Schmetterling natürlich wieder weggeflogen. Ich fand ihn zwar wieder, aber jetzt war er woanders. Dort jedoch gefiel mir die neue Gruppierung nicht; und so wartete ich nun den ganzen Nachmittag darauf, dass er sich wieder auf das Rosenblatt setzte. Ich wünschte mir sozusagen die bereits vergangene Situation, die sich so doch nie wieder ergeben konnte. Dadurch übersah ich die förmliche Einladung des Schmetterlings, seine bezaubernde Schönheit zu bewundern, die er in immer neuen Zusammenstellungen zur Schau stellte. Ich war in der Vorstellung der Kopie einer vergangenen Situation gefangen. Hatte aber am Ende kein einziges Foto vom schönen bunten Schmetterling gemacht.

 

Was wir in solchen Situationen aus dem Blick verlieren, ist in erster Linie die tatsächliche Gegenwart, die Jetztzeit unseres Daseins. Die einmalige Zeiteinheit, die wir als real erleben können und die uns in jedem neuen Augenblick einlädt, sie wahrzunehmen und unser Leben in ihr zu gestalten.

 

Ich habe an meinem früheren provisorischen Lebenskonzept erkennen müssen, dass meine Familie und ich zwanzig Jahre lang aus meiner Vergangenheit unsere Zukunft machen wollten, ungeachtet, was unsere Gegenwart neu zu gestalten anbot. Und das war eine Menge – eine Menge Leben, das sich umso klarer offenbarte, je mehr wir erkannten, dass nicht das „Morgen“, sondern das „Heute“ unsere primäre Sorge sein sollte. So ließen wir uns offener auf die Menschen in unserem Umfeld ein, was Freundschaft und Verwandtschaft neue Bedeutung und neue Qualität verlieh. Wir nahmen unsere Verantwortung bewusster wahr, die Gesellschaft mitzugestalten, in der wir lebten, nicht die, der wir eventuell in der Zukunft angehören würden. Heute bin ich dankbar, dass meine Frau eine Lehrerin ist, von der sich die Schüler geliebt fühlen können. Und mir tut es gut in meinem Beruf als Pfarrer und interkultureller Trainer wahrzunehmen, wie gerne Menschen meine Dienste annehmen, um unserer kulturell so heterogenen Gesellschaft bewusster und kompetenter zu begegnen.

 

 

Nun aber noch einmal zurück zu dem Jeremia-Text, der mir so viel bedeutet: Die Israeliten wollten in ihre vertraute Heimat zurückgehen, zurück zu den Orten, die ihr Leben bislang ausgemacht hatten. Sie wollten sich unter dem Schirm ihres Gottes in der Weise bergen, in der sie sich in der Vergangenheit ja schon so oft geborgen hatten. Aber wo war nun die Gegenwart?

Nun weist der Prophet Jeremia sie genau auf diese Gegenwart hin: Macht aus der Welt des Exils eure neue Heimat. Baut dafür Häuser, bepflanzt Gärten, heiratet und gründet Familien! Kümmert euch mit um das Wohl der Stadt, in der ihr wohnt, auch wenn sie noch eine fremde Stadt ist! Seine Botschaft lässt sich vielleicht auch so formulieren: Zu eurer rückwärtsgewandten Vorstellung von Zukunft gibt es wohl eine Alternative. Und diese Alternative setzt genau dort an, wo ihr euch eurer Gegenwart widmet. Ob sich der Prophet und die Angesprochenen annähern können?

 

Welch eine Spannung: zwischen der Sehnsucht nach einer Zukunft in Freiheit und der Forderung, sich auf den Status quo zu konzentrieren und ihn anzunehmen. Das heißt nicht, der Passivität zu erliegen, zu resignieren und mutlos alles aufzugeben. Es geht vielmehr darum, aus dem Status quo etwas Neues zu gestalten. Es geht um eine Bewusstseinsschärfung für das „Jetzt.“ Es gilt, auf der Grundlage der Vergangenheit ein „Jetzt“ so zu managen, dass ein schöpferischer Blick auf morgen gerichtet werden kann. Die Rede von „Morgen“ ermöglicht es mir, mir eine neue Facette der permanenten Gegenwart Gottes offenbaren zu lassen. Die Gegenwart, so sehe ich sie, ist das eigentliche Stück Zeit, das mir in meinem Leben zur Verfügung gestellt wird. Die Vergangenheit kann ich nicht ändern, obwohl ich oft mit der Illusion lebe, sie zu besitzen. Die Zukunft wiederum ist noch unbekannt und unsicher, sie wirkt manchmal eher bedrohlich auf mich. Das, was mir tatsächlich zur Verfügung steht, ist meine Gegenwart.

Das „Jetzt“ ist meine Zeit, die zu verwalten, die zu gestalten ich mich berufen fühle. Daraus kann ich in der Tat etwas machen. Aber indem ich sie in eine positive Beziehung mit der Offenbarung Gottes in meinem Leben setze, gebe ich mir auch die beste Voraussetzung, um den Blick auf Morgen zu richten: die Hoffnung. Mit der Hoffnung artikuliere ich mein Lebensgefühl. Mit ihr wird mein Leben erst zu einer Haltung. Ich hoffe, also bin ich. Was ich tue bekommt einen Sinn, ich stemme mich dagegen, zu resignieren, bzw. den Lebensmut und die Lebenslust preiszugeben.

Wir sind nicht nur das, was unsere Vergangenheit aus uns macht. Wir haben nicht nur ein „Vorher“. Unser Menschsein ist auch ein Produkt unseres Gegenwartswirkens. Und auf der Gegenwart wiederum bauen wir, von der Hoffnung motiviert, das auf, was für uns Zukunft wird. Eine entscheidende Dimension unserer Biografien!

 

Die Hoffnung war es, die die Menschen in Südafrika singend beten ließ. Von dem unmenschlichen Apartheidregime unterdrückt und erniedrigt. Sie lagen buchstäblich am Boden, waren absolut chancenlos, und sie sangen trotzdem:

 

Gott, gib uns Stärke, dass Ketten springen, … dass wir aufstehen.

Gott, gib uns Hoffnung, dem Hass zu wehren, … nicht zu verbittern.

Gott, Gib uns Stärke und mach uns furchtlos, … weil wir sie brauchen.

 

So zu beten und zu singen hat Kraft. Die Symbiose zwischen Hoffen und „jetzt handeln“ wird hier in überzeugender Weise vollzogen. Ich sehe mich mit der Frage konfrontiert, was meine Gegenwart von mir verlangt. Nicht morgen, nicht gestern, sondern jetzt ist die Zeit, die ich gestalten kann und sicher auch gestalten soll. Indem ich handle, gliedere ich aktiv die Zukunft in diese Zeit ein und halte sie offen. Und mein Handeln entfaltet sich in Hoffnung. Ich hoffe, also bin ich.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Goldberg-Variationen, Aria (BWV 988), Johann Sebastian Bach
  2. Goldberg-Variationen, 1a1
  3. Goldberg-Variationen, 15
  4. Goldberg-Variationen, 11a2
  5. Goldberg-Variationen, 29
13.12.2018
Jean-Félix Belinga-Belinga