Kronenforschung – Segensforschung

Morgenandacht
Kronenforschung – Segensforschung
01.07.2015 - 06:35
16.06.2015
Ulrike Greim

Es war im Sommer im Park von Belvedere. Sie hatten einen Kran mit Hebebühne aufgestellt. Der Baumkronenexperte und ich stiegen hinein, er lenkte uns nach oben. Auf die Höhe der Baumkronen. Und noch ein Tickchen höher. Wir schwebten über dem Blätterdach.

 

„Hier sehen sie eine perfekte Rosette,“ erklärte er. „Von oben geschaut, ergibt sie ein symmetrisches Bild. Wie ein Mandala. Da drüben in der Krone würden sie keine Struktur erkennen, da wächst alles wild durcheinander. Jeder Baum hat seinen eigenen Charakter“, sagt der Forscher. „Genau wie wir Menschen. Die Baumkrone ist wie ein Fingerabdruck. Absolut individuell.“ Ich staune.

 

Die Baumkronenforschung ist ein junger Zweig der Biologie. Weltweit versuchen Forscher, den Bäumen auf die Krone zu steigen. Denn der größte Teil der Kommunikation des Baumes mit der Umwelt findet ganz oben statt. Da tummeln tausende Insekten, da wird Kohlendioxid in Sauerstoff verwandelt, da wächst der Baum.

 

Wir fahren etwas weiter nach links zum Nachbarbaum.

 

„Hier sehen sie einen Baum, der sehr darauf bedacht ist, seine Nachbarbäume nicht zu stören. Er wächst, und 20 Zentimeter vor dem nächsten Baum hört er auf, zu wachsen. Noch wissen wir nicht, warum. Kann er die Lichtreflexion der Blätter erkennen und messen? Wie kann er sein Wachstum beeinflussen, hat er einen Willen?“

 

Wir lassen den Blick schweifen über die wunderbaren Baumdenkmale des Parks. Lauter alte Damen und Herren, gepflanzt zu Goethes Zeiten. Unesco-Welterbe. Traumhaft schön, ungemein vielfältig.

 

Geschichte zum Anfassen. Wäre wunderbar, wenn sie erzählen könnten. Wem haben sie schon alles Schatten gegeben. Und Sauerstoff. Haben sie die Dichter inspiriert?

 

Was haben sie selber erlebt? Welche Wachstumsphasen, welche Trockenheiten. Welche harten Winter, welche berauschende Frühlinge? Liegt die Struktur ihrer Kronen in ihren Genen? Oder kann man sie beeinflussen? Kann man das steuern, wie die Bildung eines Kindes? Welche Atmosphäre brauchen sie, um groß und stark und alt zu werden?

 

Der Park von Belvedere wird von der Klassikstiftung Weimar professionell gepflegt. Der Segen der Geschichte ruht auf ihm. Das Schicksal anderer Bäume, die ohne Wissen um ihre Bedeutung gefällt werden, bleibt denen im Park erspart.

 

Segen schützt.

 

Wie auch die Fürsorge von Eltern Kinder schützt.

 

Wer schützt meine Krone? Wer hilft mir, mich zu entfalten?

 

Das Urbild eines Menschen ist das eines freistehenden Baumes auf dem Feld. Mit voller Krone. Im Wechsel der Jahreszeiten. Stärker werdend, fest gründend. „Er wird wachsen wie ein Baum an der Quelle, dass die Zweige emporsteigen über die Mauer.“ (1.Mo 49,22) So sagt es der Stammvater Jakob in der Bibel über seinen Sohn Josef. Da liegt er im Sterben. Er will seinen Söhnen den Segen geben. Und entwickelt Bilder. Visionen vom gelingenden Leben.

 

Josefs Wurzeln sollen versorgt sein, sagt der Vater dem Sohn. Josefs Krone wird ausladend werden. Mauern locker überragen.

 

Diesem jungen Mann wird es nicht schwer fallen, zu wachsen. Er hat ja das Bild im Kopf. Ein Bild, dass seiner Seele den Raum aufmacht: es kann sein, es darf sein, es wird sein, dass ich mich wunderbar prächtig entwickele. Meine Krone wird groß und kräftig werden.

 

Als wir mit der Hubbühne langsam wieder hinunter fahren, bin ich nachdenklich. Eine große und gesunde Krone – sie ist ein Geschenk für alle. Und sie ist eben auch ein Geheimnis, bei dem Forscher noch viel zu untersuchen haben. Viele Rätsel, die gelüftet werden wollen.

 

Auch gesegneten Menschen sollte man in die Krone steigen, um zu sehen, wie sie mit ihrer Umwelt kommunizieren, wie sie Gift in Sauerstoff umwandeln, wie sie mit den Nachbarbäumen umgehen. Welche Insekten sich hier sammeln und Nahrung finden. Wie sie Geschichten erzählen. Und wie sie Segen vererben.

16.06.2015
Ulrike Greim