Von Menschen und Werten

Morgenandacht
Von Menschen und Werten
19.10.2015 - 06:35
18.06.2015
Pfarrer Eberhard Hadem

Wenn es um die Flüchtlinge an den Grenzen Europas geht, wird viel von den Werten und der Wertegemeinschaft Europas geredet. Der Wert der Menschenwürde wird beschworen, er soll bewahrt und geschützt werden.

 

Den Wert der Menschenwürde schützen – als Christ mag ich das nicht so einfach nachsprechen. Ich will für reale Menschen eintreten, für ihre Existenz, für ihr leibliches Da-Sein – und nicht für einen abstrakten Wert. Menschenwürde wird nur dann geschützt, wenn ein konkreter Mensch in den Blick kommt. Als die Bilder von Alan, dem kleinen toten Flüchtlingsjungen am türkischen Strand um die Welt gingen, wurde schlagartig fast allen klar, dass man immer nur einen konkreten Menschen schützen kann. Für Alan kam jede Hilfe zu spät – und wenn es Menschenwürde als abstrakten Wert geben sollte, dann ist er mit dem Flüchtlingsjungen untergegangen.

 

Das Reden über die Menschenwürde bewegt kaum etwas – der tote kleine Junge aber hat zumindest für einen kurzen Moment betroffen gemacht. Europaweit und weltweit waren Menschen erschrocken, fühlten sich hilflos, wütend. Geschämt habe ich mich, wie viele andere, auch. Und wenn es so war, dann ist das noch das einzig Gute an dem Schrecklichen, das nicht nur diesem kleinen Jungen passiert ist und immer weiter anderen Menschen passiert. Vielleicht ist es ja das sich-Schämen, das die Augen für den einzelnen Menschen öffnet. Und als Erstes einen Mensch auf der Flucht zu sehen ist, der ruft: „Rettet mich! Sagt nicht, dass ihr die ganze Menschheit liebt. Schützt mich – so werdet ihr mit mir auch alle Menschen schützen.“

 

Es ist so, dass die Menschen an den Grenzen von Europa und vor den Toren der Städte nicht alle vor Krieg und Tod flüchten. Manche kommen, weil sie keine Lebensperspektive, wirtschaftlich keine Zukunft haben. Mit ihnen werden wir Europäer andere Zukunftswege suchen müssen – und das ist keine leichte Herausforderung.

 

Aber die allererste Herausforderung sind die konkreten Menschen in Not vor der eigenen Haustür. Wäre Menschenwürde ‚nur‘ ein Wert, könnte man den einen Wert gegen einen anderen Wert abwägen. Und dann kann geschehen, was längst geschieht: in die Waagschale geworfen verliert der abstrakte Wert ‚Menschenwürde‘ ganz schnell gegen andere Werte. Dann kommen nachvollziehbare Begründungen, die am Ende Menschenwürde unmöglich machen, nicht nur abstrakt, sondern auch ganz real. Dann ist unversehens das wichtiger, was man sich in Europa und Deutschland mühevoll aufgebaut hat. Und das eigene Hab und Gut wird eingezäunt. Oder die abendländische Kultur als bedroht abgeschottet – als würde sie nicht von Handel, Austausch und Offenheit leben. Am Ende dann schützen abstrakte Gesetze und reale Zäune vor den Flüchtlingen, weil dahinter ganz andere Werte als die Menschenwürde geschützt werden sollen.

 

Wenn Menschenwürde nur ein Wert ist, hat sie schon verloren. Weil die konkreten Menschen aus den Augen geraten und gleichzeitig die Flüchtlingsströme und Integrationsprobleme viel größer erscheinen. Wer an den Grenzen von Europa Mauern und Stacheldrahtzäune baut, weil er Kriegsflüchtlinge von Wirtschaftsflüchtlingen unterscheiden und abschrecken will, übersieht die konkrete Not und den einzelnen Menschen. Das kann am Stammtisch genauso leicht geschehen wie an den Verhandlungstischen in der Europäischen Union.

 

Die Bürgerinnen und Bürger dagegen, die in diesen Tagen Flüchtlinge willkommen heißen, handeln verantwortungsbewusst. Sie machen keine Unterschiede zwischen Menschen. Sie machen Realpolitik. Als Christ kann ich das nur unterstützen.

 

Die Bibel erzählt, wie Jesus in eine Stadt kam und „einen Menschen sah, der saß am Zoll und hieß Matthäus.“ Im Griechischen heißt es wörtlich: ‚Jesus sah einen anthropos‘, einen Menschen. Zuallererst einen Menschen sehen. Und dann, dass dieser Mensch einen Namen hat. Das kann jeder und jede tun, in einer Erstaufnahmestelle einen Flüchtling nach seinem Namen fragen. Und den einzelnen Menschen und seine Not sehen, so, wie es Jesus auch getan hat. Das ist ein guter Anfang. Und bewahrt, ganz nebenbei, auch die europäischen und christlichen Werte.

18.06.2015
Pfarrer Eberhard Hadem