Zwischen allen

Morgenandacht
Zwischen allen
Die Seilschaft
31.12.2016 - 06:35
27.12.2016
Pastor Oliver Vorwald

Dämmerlicht im Saal. Gleichmäßig summt der Diaprojektor. Im Lichtkegel steigen Staubkörner auf und ab. Bilder der Berge. Schroffe Felswände, Eisfelder, die Allgäuer Hochalpen. Am Schluss zeigt der Herbergsvater die Aufnahme mit den drei jungen Männern. Kurze Lederhosen, braungebranntes Lachen, die Haare gescheitelt, daumendicke Seile über den Schultern. Dieses Bild prägt sich Willi ein. Vor allem wegen der Geschichte dazu. 60 Jahre ist das alles nun her, erzählt Willi. Vor ihm liegt sein Notizbuch, dicht beschrieben. Daneben die Karte mit der Jahreslosung.

 

Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und einen neuen Geist (Hes 36,26).

 

Sommer 1957, Hannover Hauptbahnhof. Oben auf Gleis Vier warten die anderen. Mit himmelweitem Herzen schiebt Willi das 28er-Herrenrad durch die große Halle. Eine Mischung aus Pfeifenrauch, Fernweh und Ansagen hüllt ihn ein. Auf dem Gepäckträger federt die graumelierte Wolldecke, darunter der Tornister, die Feldflasche mit Filzbezug. Nach dem großen Hallo verteilt ihr Gruppenleiter die Fahrkarten. Braungelbe Schnipsel mit einem hellblauen Streifen in der Mitte. Heidelberg steht darauf. Von dort radeln sie durch Deutschlands Seele. Den Neckar entlang, über den Schwarzwald, hinein ins Allgäu. Als die Fahrtengruppe nach einer Woche ihr Ziel erreicht, steht ein türkisblauer Himmel über den Bergen. Unweit der Talstation der Seilbahn liegt ihre Unterkunft, das Christliche Freizeitheim. Von hier aus unternehmen Willi und die anderen täglich kleine Touren. Später sitzen sie vor dem Haus, singen zur Gitarre, träumen sich unter den Sternen ihr Leben.

 

Und dann kommt der Abend mit dem Diavortrag. Die rot-weiß-karierten Vorhänge im Speisesaal sperren den Sommerabend aus. Der Projektor zeigt Bilder der Berge. Schroffe Felswände, Almwiesen, Eisfelder. Zuletzt die lachende Seilschaft, aufgenommen mit dem Selbstauslöser. „Beim Abstieg reißt einer die anderen mit in die Tiefe“, erzählt der Herbergsvater. Er stockt, redet weiter. „Es waren meine eigenen Jungen.“ Dann Stille.

 

Was von den Söhnen des Herbergsvaters bleibt, sind die Bilder. Wanderer finden die Kamera der drei Bergsteiger nach der Schneeschmelze. Als die letzten Momente seiner Jungen ans Licht kommen, fasst er sich ein Herz: Immer wieder zeigt der Herbergsvater die Aufnahmen. Immer, wenn Jugendgruppen zur Sommerfrische in sein Gästehaus kommen, erzählt er davon. Immer wieder diese Aufnahme seiner Kinder als Seilschaft am Berg. Immer wieder diese Worte: „Es waren meine eigenen Jungen.“

Obwohl es nicht seine Geschichte ist, wird es auch für Willi ein Abschied, ein Schmerz. Der plagt ihn keinesfalls jeden Tag. Nur dann und wann klettert er aus den Tiefen seiner Seele herauf. Und mit ihm die Frage. „Wie hat er das nur aushalten können, der Herbergsvater?“

 

Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und einen neuen Geist (Hes 36,26).

 

Willi gibt sich mit den Jahren selbst eine Antwort. Er merkt es nicht einmal. Irgendwann kauft er eines von diesen Notizbüchern. Jene Sorte, die sich mit einem Gummiband verschließen lassen. Schwarzer Einband, festes Papier, unlinierte Seiten. Darauf notiert Willi Gedanken, Gedichte, Gewesenes. Hinzu kommen Fotos, Bleistiftzeichnungen, ein paar Zugtickets – Bilder aus seinem Leben, ein Andenken für seine Kinder. Aber Willis Kapitel 14, wie er es nennt, gehört den drei Bergsteigern. Rechts, mit abgehackter Schrift notiert, ihre Geschichte. Links ein gelbrauner Zeitungsausschnitt. Schwarzer Rahmen, drei Namen, darunter andere Worte jenes Herbergsvaters über seine Jungen. „Durch Jesus, der uns Leben und Auferstehung bedeutet, gestärkt und getröstet.“ Willi kämpft mit den Tränen. Und dann huscht ein Lächeln über sein durchfurchtes, immer noch jungenhaftes Gesicht. Er schiebt die Karte mit der Jahreslosung in das Notizbuch, hebt das Gummiband, schließt den Deckel.

 

Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und einen neuen Geist (Hes 36,26).

27.12.2016
Pastor Oliver Vorwald