Zwischen den Welten

Morgenandacht
Zwischen den Welten
Der Alte auf festem Grund
29.12.2016 - 06:35
27.12.2016
Pastor Oliver Vorwald

Ein eisblauer Himmel leuchtet über Weiden und Wallhecken. Sein Hof liegt am Dorfrand. Mit dem Fahrrad brauche ich nur wenige Minuten. In der Winterluft singen die Reifen auf dem Kopfsteinpflaster. Der alte Landwirt liegt im Bett, seit Tagen schon. Er lebt nun zwischen den Welten. Als ich in sein Zimmer trete, richtet er sich auf, drückt meine Hand. Dann verlagert er sein Gewicht, schafft sich Platz. Dabei rauschen die Daunen in der Decke, als würde jemand durch frischen Schnee stapfen. Wir machen uns tatsächlich auf den Weg an diesem Morgen. Allerdings ohne auch nur einen Schritt zu tun. Mit Gesten und Geschichten wandern wir hinein ins Gestern.

 

Es sind seine letzten Tage. Er weiß das. Das Werden und Welken im Leben ist ihm vertraut. Von Klein auf. Schwer waren die vergangenen Wochen. Seine Kreise wurden immer kleiner. Die frühere Kraft – verschwunden, verflogen, verloren. Aber dieser letzten Anstrengung ausweichen? Kein Wort davon. Ganz bewusst nimmt er Abschied. Durch das halb geöffnete Fenster strömt kalte klare Luft herein. Sein Blick wandert hinaus, geht durch die Jahre, tief hinein in sein Leben. Alles wieder da, als sei es gestern gewesen. Die Sommer am Fluss, der nahe seinem Hof durch die Wiesen und Weiden mäandert. Dort hat er Schwimmen gelernt, Aalschnüre ausgelegt. Gegen Kriegsende die Einberufung, Ausbildung fernab der Heimat, die Gefechte bei Eis und Schnee an den Berghängen, die Stunde Null in der Steiermark . Jahre später dann diese eine stille Weihnacht. Bloß Kerzen, keine Lieder. Der Alte stockt, wird still. Aus der Küche klingt Stimmengewirr herüber. Geschirr klappert. Nun tauchen die Spiele wieder auf. Mit seinen Kindern um den Hof, frühabends nach dem Tagwerk auf den Feldern. So viele Bälle seines Jungen hatte er gefangen zwischen den Pfosten der Scheune. Während wir gemeinsam so durch die Jahre gehen, fasst er meine Hand. Seine Finger schließen sich fest um meine. Sie lassen die Kraft ahnen, mit welcher der Alte sein Leben bestellt hat.

 

Angst vor dem Tod hat er keine. Als Kinder sind sie auf diesen Moment vorbereitet worden. Im Stall oder beim Schlachtetag und an den Sterbebetten. Jeden Sonntag mussten sie für eine Stunde in die alte Backsteinkirche. Die liegt auf einer Warft, einem künstlichen Erdhügel. Stolz überragt das alte Gotteshaus alle Höfe ringsherum. Im Winter trug jeder ein Stövchen bei sich. Dazu zwei Stück Torf, Briketts geschnitten aus den Mooren. Und dann hieß es Aufstellung nehmen. Neben den Bänken, wie die Orgelpfeifen. Durch den Gang und den Dunst der Torfglut schritt der Pastor. Mit donnernder Stimme prägte er ihnen Psalmen und Lieder ein, legte Katechismustexte in sie hinein. Darauf baut und vertraut der Alte. Bis heute. Die Worte kommen ihm jetzt langsamer über die Lippen. Immer öfter schließt er nun die Augen. Und dann nimmt er mich wieder fest in den Blick. Ja, Zweifel, die kennt er auch. Aber in solchen Momenten macht er sich an seinem Bibelwort fest. „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus (1. Kor 3,11).“ Diesen Vers hat ihm der Pastor bei der Konfirmation zugesprochen.

 

In der Küche singt ein Kessel, Teeduft zieht durchs Haus. Es wird Zeit. Ein gemeinsames Vaterunser, ein letzter Händedruck. Erneut rauschen die Daunen, der alte Landwirt legt sich wieder hin. Ich gehe aus dem Zimmer, blicke mich noch einmal um, er winkt wie zum Segen. Dann stehe ich draußen. Über Weiden und Wallhecken leuchtet immer noch dieser eisblaue Himmel. Dort hinten liegt der Fluss, sein Land. In der klaren Winterluft singen meine Schritte auf dem Pflaster. Der alte Landwirt weiß, wohin er geht. Sein Fundament steht. Schon lange.

27.12.2016
Pastor Oliver Vorwald