Eine neue Familie für einen jungen Flüchtling

Spurensuche
Eine neue Familie für einen jungen Flüchtling
06.08.2016 - 10:00
07.08.2016
Pfarrerin Petra Schulze

Über die Sendung

In  vielen Kulturen spielt die Familie als Netz eine große Rolle. Was aber, wenn junge Geflüchtete ohne ihre Familie nach Deutschland kommen, in deren Land die Familie der wichtigste Halt ist? Wer zeigt ihnen, wie sie sich in der neuen Welt zurechtfinden können? Für die evangelische Kirche hat Petra Schulze mit einer ehrenamtlichen Flüchtlingshelferin der Diakonie gesprochen.

 

Sendung zum Nachlesen

Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. (Matthäus 25,35)

Sie steht auf einer großen Bühne im Gerry Weber-Stadion in Halle/Westfalen. Vor zweitausend Menschen. Und Ramona Rohlfing erzählt. Sie spricht von ihrem neuen Familienmitglied aus West-Afrika. Es ist ein 21-jähriger Mann aus Guinea. Ramona Rohlfing arbeitet ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe der Diakonie und spricht hier im Mai 2016 bei dem großen Festival „Weite wirkt“, das die Evangelische Kirche in Westfalen veranstaltet hat. Mit Gemeindemitgliedern, Geflüchteten und Gästen aus Partnerkirchen auf allen Kontinenten. Nach ihrem Auftritt spreche ich mit Ramona Rohlfing.

 

Schlimme Erfahrungen und ein neuer Anfang

Ihr Schützling kam vor drei Jahren aus Guinea nach Deutschland. Er war 18 und hatte viel hinter sich, Gefängnis und Folter. In seiner Heimat wurden seit einem Aufstand 2009 viele Oppositionelle festgenommen, auch sehr junge. Nun ist er in Deutschland in Sicherheit. Doch Kontakt nach Guinea hat er keinen mehr. Das belastet ihn. Ramona Rohlfing erzählt: „Sein Papa ist tot, sein Bruder wurde bei dem Aufstand 2009 getötet, seine Schwester. Und seine Mama, da weiß er nicht viel, weil, die ist darüber eben nervlich kaputt. Er weiß auch gar nicht mehr, ob sie überhaupt noch lebt oder…Und das merkt man eben: Familie ist für ihn alles.“ Weil er schon volljährig war, bekam er in Deutschland keine Betreuung mit Familienanschluss. Ein Jahr lebte er im Container, jetzt allein. Auf Familie musste er dank Ramona Rohlfing trotzdem nicht verzichten. „Er sagt auch Oma und Opa zu meinen Eltern – das ist eben alles Familie für ihn.“ Zu dieser Familie gehören auch Ramona Rohlfings erwachsener Sohn und seine Freundin. Doch: Familie sein – das geht nicht von jetzt auf gleich, das ist ein Weg. Ramona Rohlfing meint: „Was mich freut mit der Zeit: Am Anfang wollte er uns natürlich gefallen. Und er hatte vielleicht auch Angst, dass wir sagen: Ach, nee, es ist doch nichts… Und ich sage mal: Er hat alles gemacht, was wir so gesagt haben. Und heute ist es aber so, dass ich mich mit ihm streiten kann. Und das finde ich positiv.“ Jetzt ist er wie er ist. So können Vertrauen und Offenheit entstehen.„Vor allen Dingen beim Kochen oder Backen. Da ist das nicht so wie im Verhör. Dann erzählt er eben viel von zu Hause. Und das ist ja eine Art von Vertrauen. Er erzählt da Sachen, die er sonst noch nie erzählt hat.“

 

Auch viele Deutsche sind einmal geflohen

Ramona Rohlfing kann es kaum aushalten, wenn sie die Bilder von untergehenden Flüchtlingsbooten sieht oder wie die Geflüchteten abgewiesen werden. Sie selbst ist 1989 mit einem Koffer über die Prager Botschaft nach West-Deutschland gekommen. „Ja, mit einem Koffer. Mein Sohn hatte einen kleinen Rucksack. Mehr hatten wir nicht. Also mein damaliger Mann, mein Sohn war vier und ich. Und wir sind hier wirklich positiv aufgenommen worden. In Hof, da war ein Riesenempfang, eben auch gerade von den kirchlichen Vereinen viel.“ Gerade weil sie weiß, wie wichtig es ist, freundlich aufgenommen zu werden, eine Arbeit zu bekommen – deshalb geht ihr das nah, wenn Geflüchtete schlecht behandelt werden. Und auch deshalb setzt sie sich so stark ein für einen Menschen, der seine Heimat und seine Familie verloren hat. Sie will ein bisschen zurückgeben von dem, was sie selbst an Positivem erfahren hat. Ramona Rohlfing ist dauernd im Einsatz. Sie fährt den jungen Mann zum Gitarrenunterricht oder Basketball. Aber sie macht das nicht nur wegen ihrer eigenen Erfahrungen. Denn man bekommt viel zurück, meint sie: „Ja, an Liebe. Er nimmt immer meine Hand, dann drückt er mich…“ Und die deutsche Familie kann auch eigene Sorgen und Nöte mit ihrem neuen Mitglied besprechen. So erhalten auch sie Hilfe von dem Mann, dem sie geholfen haben.

07.08.2016
Pfarrerin Petra Schulze