Spurensuche - Was wahr ist

Spurensuche
Spurensuche - Was wahr ist
25.06.2016 - 10:00
11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert

Über die Sendung

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ - sagte Ingeborg Bachmann in einer berühmt gewordenen Rede  im Jahr 1959.  Daran erinnert Angelika Obert anlässlich des 90. Geburtstags der Dichterin.

 

Sendung zum Nachlesen

Wer heute 90 wird

Wer heute 90 Jahre alt wird, war noch keine 19, als der Krieg zu Ende ging und es vorbei war mit dem Nationalsozialismus. Wer heute 90 wird, hat als Kind gelernt, dass alles Unglück von den Juden kommt, dass „gelobt sei, was hart macht“, dass ein deutscher Junge stramm steht und ein deutsches Mädel aufschaut zum deutschen Jungen. Wer heute 90 wird, hat die Teenagerjahre in Angst und Entbehrung verbracht und sich danach nicht ganz zu Unrecht als Opfer gefühlt. Es gab viel nachzuholen an Annehmlichkeiten und es gab auch viel zu verdrängen, was im Licht der neuen Zeit die eigene Jugend in das Dunkel von Entsetzen und Scham getaucht hätte.

Ich gehöre zu denen, die von den heute 90jährigen erzogen wurden. Auch ich bekam es noch zu hören, dass gelobt sei, was hart macht, dass es die Männer sind, die denken und deren Zielen eine „richtige“ Frau dienend zur Seite steht. Und ich hörte auch nicht selten, dass jemand „bis zur Vergasung“ irgendetwas geübt oder geputzt hatte. Ich gehöre zu denen, die sich heranwachsend fragten, wo denn die Scham war und das Entsetzen bei den Erwachsenen. Und wie Andere auch fand ich Trost und Orientierung bei den Wenigen, die Worte fanden für das, was sonst ungesagt blieb.

 

Sich dem Schmerz stellen

Zu ihnen gehörte Ingeborg Bachmann, die Dichterin, die heute 90 Jahre alt geworden wäre. Auch sie war 1945 mal gerade 19 Jahre alt. Doch so jung sie auch war, stellte sie sich der Scham und dem Entsetzen und wollte nichts anderes, als dafür die wahrhaftigen Worte finden. „Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen. Was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab“ - so heißt es in einem ihrer Gedichte. Zwei Sätze, die ich jahrelang an meiner Pinnwand hatte, weil auch ich es erst lernen musste, dass „wahr“ nicht einfach ist, was Autoritäten als Wahrheit hinstellen. Dass Wahrheit, auch meine eigene, oft genug das ist, was unter der Decke liegt, was ich nicht sehen kann oder sehen will, weil es eben weh tut. Aber dass der Schmerz, die dunkle Wahrheit anzuschauen, doch auch Befreiung bedeutet, neue Einsicht, neues Leben.

 

Sprache finden für die inneren Lähmungen

Befreiend war es für mich dann auch zu lesen, wie unbeirrbar Ingeborg Bachmann den Erfahrungen weiblicher Ohnmacht nachspürte, die ja vor allem damit zu tun hatten, dass der lähmende Stein auf dem Herzen im eigenen Fühlen und Denken verankert war, weil frau eben selbst daran glaubte, das Sagen sei Männersache. An den inneren Lähmungen hat Ingeborg Bachmann gearbeitet, für die hat sie die Sprache gefunden, in der ich mich wie viele meiner Altersgenossinnen wieder erkannte. Da sie den Stein des Unsagbaren weggewälzt hatte, wurde es uns dann auch möglich, die Ohnmachtsgefühle hinter uns zu lassen.

Später habe ich mich gewundert, warum Ingeborg Bachmann, die doch so stark in ihrem Sprechen war, sich selbst nur immer weiter verloren fühlte. Aber tatsächlich war sie es ja auch, als eine neue Generation mit neuen Parolen und neuen Selbstgewissheiten ihre schmerzlichen Selbsterforschungen überrollte.

 

Eine Prophetin zu ihrer Zeit

Heute denke ich: Sie war eben eine Prophetin zu ihrer Zeit – und Propheten sind nie glücklich. Sie hat getan, was ihre biblischen Vorläufer auch taten. Die haben ja nicht die Zukunft vorausgesagt, sondern den Schleier der Selbsttäuschungen von der Gegenwart gerissen. Sie haben die Worte gefunden, die den Stein vom Grab rückten. Dafür wurden sie verspottet und angefeindet von denen, die schmerzliche Wahrheit nicht hören wollten. Aber schwerer war es wohl noch, dass sie sich ja auch gegen ihre eigene Verwirrung stemmen mussten, denn wer den Schleier von den Täuschungen der eigenen Generation ziehen will, muss ja immer bei sich selbst anfangen, sich zuerst selbst quälen.

Denken wir, das wäre heute nicht nötig? „Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen. Was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab.“ Das gilt es doch wohl für jede Generation aufs Neue zu lernen.

11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert