Blühendes Leben

Wort zum Tage
Blühendes Leben
28.05.2015 - 06:23
31.03.2015
Pastorin i.R. Elke Drewes-Schulz

Es ist jetzt beinahe 20 Jahre her, dass ich das Lehrerzimmer meiner Schule betrat und entdeckte, dass der Stuhl eines erkrankten Kollegen an den Tisch angelehnt war. Wo gewöhnlich Bücher lagen und ein Kaffeebecher stand, befand sich nun eine kleine weiße Orchidee. Es bedurfte keiner Worte. Allen, die den Raum betraten, war klar, was passiert war. Und alle verharrten erschrocken und still, bevor sie ihre eigenen Plätze einnahmen.

 

Einige Wochen blieb die Orchidee auf diesem Platz stehen. Irgendjemand sorgte immer dafür, dass auch der Stuhl morgens wieder an den Tisch gelehnt wurde. Der Verstorbene gehörte noch dazu. War noch irgendwie mit dabei bei unseren Gesprächen. Und das war keineswegs bedrückend. Im Gegenteil. Wir hatten dadurch mehr Zeit, uns von ihm zu verabschieden.

 

Nach den Sommerferien gab es neue Möbel für das Lehrerzimmer und die kleine, mittlerweile verblühte Orchidee verschwand in einer Ecke der Fensterbank und geriet schon fast in Vergessenheit.

 

Die nächsten großen Ferien kamen und mit ihnen auch der Wille, das Lehrerzimmer einladender zu gestalten. Alles, was diesem Anspruch nicht gerecht wurde, wurde in einer Ecke des Raums gesammelt. Wer wollte, sollte sich bedienen. Was innerhalb einer Woche noch dastehen würde, sollte entsorgt werden. Auch die kleine Orchidee. Ohne Blüten und mit nur noch einem halbwegs grünen Blatt erinnerte sie in beklemmender Weise an den normalen Lauf der Dinge: an Tod und Vergessen.

 

Ich gab ihr keine großen Überlebenschancen, fand es aber auch unerträglich, sie einfach wegzuwerfen. Und so nahm ich sie mit nach Hause und topfte das einzige noch existierende Blatt neu ein. Nach einem Jahr zeigte sich ein neues Blatt. Das Jahr darauf ein weiteres. Dafür wurde das alte Blatt braun. Wegwerfen kam trotzdem nicht in Frage. Jahrelang genoss sie die Pflege, die ich meinen anderen Orchideen auch zukommen lasse. Aber Blütentriebe brachte sie einfach nicht zustande. Bis jetzt. Nach fast 20 Jahren hat sie es geschafft und zieht nun wieder den Blick auf sich und ihre filigranen weißen Blüten. Für mich ist es ein kleines Wunder. Und ein Zeichen:

 

Nichts sollten wir so schnell dem Tod überlassen. Auch wenn er biologisch eine unüberwindbare Grenze darstellt. Der Tod muss nicht das letzte Wort behalten. Wir haben ihm etwas entgegenzusetzen: unsere lebendigen Erinnerungen und die Liebe, die dem Tod seine Kälte nimmt und wieder aufblühen lässt, was verdorrt zu sein schien. Es lohnt sich, an das Leben zu glauben – auch wenn es noch so aussichtslos erscheint.

31.03.2015
Pastorin i.R. Elke Drewes-Schulz