Könnte ich sein

Wort zum Tage
Könnte ich sein
documenta Nachlese 3
27.09.2017 - 06:20
20.09.2017
Angelika Obert

Als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, waren sie nicht mehr unbefangen. Sie wussten jetzt, dass es den kritischen Blick des Andern gibt, dem sie ausgeliefert sind. Sie konnten es nicht mehr ertragen, so ganz und gar nackt zu sein in ihrer Verletzlichkeit. Gott hatte dafür Verständnis. Das Paradies mussten die beiden zwar verlassen, aber nicht unbekleidet. Gott selbst machte für sie Felljacken und zog sie ihnen an.

 

So erzählt es nicht ohne Witz die Anfangsgeschichte der Bibel. Sie erklärt uns den Ursprung der Scham und warum wir uns jenseits von Eden kaum noch unverhüllt wahrnehmen können. Dabei bestehen die Schutzhüllen, die über unserer Nacktheit liegen, natürlich nicht nur aus den Kleidungsstücken, die täglich angezogen werden. Es sind auch die sozialen Rollen, in die wir allmorgendlich wieder schlüpfen, die uns vor dem Blick in unser Innenleben schützen.

 

Unsichtbar werden das klopfende Herz, die Angst vor der Kränkung, die alte Wut, die Schwäche, die Scham. Wie es unter den Hüllen aussieht, wissen wir immer nur von uns selbst. In die Andern können wir ja nicht hineingucken und wollen es meistens auch gar nicht. Den Andern gilt bloß unser eigener kritischer Blick. So ist jeder und jede unter den Hüllen mit sich allein.

 

Was wäre, wenn ich es doch sehen könnte: Unter den Hüllen, da ist auch bei allen andern ein klopfendes Herz, ein Schrecken, eine Einsamkeit?

 

Auf der documenta gab es einen Raum mit Bildern, die haben Menschen in ihrer Nacktheit gezeigt. Ja, sie waren wirklich nackt, aber vor allem auch sichtbar in ihrer Verlorenheit. Sie sahen sich alle sehr ähnlich – wie verwaiste Gespenster. Das Kind, das zusammenzuckt unter dem Donnerwetter der Mutter, die Fliehenden in der Wüste, die Frau mit der Burka unter den wütenden Blicken der westlichen Großstädter – alle gleichermaßen ausgeliefert. Auf Augenhöhe gehängt sahen sie mich an – und ich konnte meine eigene Nacktheit in ihnen wiedererkennen, dieses Etwas, was sich unter allen meinen Hüllen versteckt hält.

 

Könnteichsein – so hat die Malerin Miriam Cahn ihren Bilderraum ja auch genannt. Könnte ich sein, das denke ich von selber nicht, wenn von den Geflüchteten in den libyschen Camps die Rede ist oder wenn ich einen rumänischen Bettler auf der Straße sehe. Ich denke es oft nicht einmal, wenn ich an meinem eigenen Kind herumzerre. Es scheint ein Gedanke zu sein, den ich so weit von mir weise, wie meine eigene Nacktheit, wenn ich morgens in meine Hüllen steige. Und doch ist es das, worauf wir alle, die wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, schließlich kommen sollten: Unter den Hüllen schlägt auch in den Andern ein verletzliches Herz.

20.09.2017
Angelika Obert