Nesthocker und -flüchter

Wort zum Tage
Nesthocker und -flüchter
18.07.2016 - 06:23
18.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Die einen sind Nesthocker, die anderen Nestflüchter. Ich bin ein Nesthocker. Als damals auf dem Gymnasium ein Austauschjahr mit Kanada angeboten wurde, habe ich mich weggeduckt. Ein Jahr weg von zuhause. Ohne Freunde, ohne Familie - mit einer Sprache, die man kaum spricht und versteht: allein der Gedanke daran ließ mich schlecht schlafen. Heute in der globalen Welt reisen schon Grundschüler nach England. Ein Jahr im Ausland nach dem Abi gehört schon fast dazu: Work and Travel in  Namibia, Au-Pair in Peru, Kriegsgräberpflege in  Polen . Für viele Jugendliche ist das heute  eine schon fast selbstverständliche Herausforderung. Ich bewundere das. Ich wär gern mehr Nestflüchter als –hocker. Wer sich mutig und neugierig aufmacht in die Fremde, kehrt verändert zurück. Mit einem feinen Gespür für andere Lebenswirklichkeiten, mit mehr Achtung vor fremden Kulturen, demütiger – vielleicht auch eine Spur bescheidener. Neulich spitzte ich die Ohren beim Radiohören: Ich schnitt Gemüse für den Salat. In einer Reportage ging es um zwei Flüchtlingsunterkünfte in Berlin und deren Auswirkungen auf die Nachbarschaft. Anwohner kamen zu Wort – sie stammten wohl eher aus meiner Generation: Nesthocker. Ich konnte es kaum fassen, denn der Bericht kam nicht irgendwo her, sondern aus meiner Stadt – und besser noch: aus meiner Straße. Dort, wo ich als Kind aufwuchs, wo mein Elternhaus war. Mein Nest also. Ich hatte die Straße sofort vor Augen: großzügige Einfamilienhäuser, dazwischen einige Villen, großzügige Parkanlagen. In einer davon, hieß es in dem Bericht, würden jetzt hin und wieder Flüchtlinge Fußball spielen. Und an der Haltestelle träfe man manchmal verschleierte Frauen mit ihren Kleinkindern. Er hätte ja anfangs nichts dagegen gehabt, so ein Anwohner, aber seit die hier im Park auch noch Fußball spielen, das ginge doch nicht. Warum eigentlich nicht? dachte ich. In dieser Straße  im Berliner Dahlem hat doch sonst jeder seinen eigenen Garten, in dem er vollkommen ungestört grillen, faulenzen oder Fußball spielen kann. Genug Auslauf für jeden. Nur die Flüchtlingsfamilien, die leben eng auf ein paar Quadratmetern. Wie schön, wenn es da eine Wiese gibt, wo sie sich austoben können und Spaß haben und unbeschwert sein für eine kleine Weile. Und besser noch, wenn ein paar der Anwohner ihre Gärten verlassen und einfach mitkicken, anstatt sich belästigt zu fühlen. Beim Fußball versteht man sich auch ohne Worte. Mit etwas Gespür und Achtung vor anderen. Der Anwohner sieht das anders: Sie wären ihm einfach fremd, meint er: „Ich kenne die nicht. Da hab ich kein gutes Gefühl. Und so wie mir geht es hier vielen.“ Sagt ganz offensichtlich ein Nesthocker. Über Menschen, die gegen ihren Willen zu Nestflüchtern wurden.

18.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen