Alles auf einmal

Alles auf einmal
Pastorin Elisabeth Rabe-Winnen
07.07.2018 - 23:20
12.01.2018
Elisabeth Rabe-Winnen

Für die meisten deutschen Schulkinder sind schon große Ferien. Frans und Mia wohnen in einer Straße, gehen in eine Klasse. Frans wird mit seiner Familie nach Mallorca fliegen. Mia nicht. Ihre Eltern haben kein Geld für Urlaub. Aber Mia freut sich auf den Tag auf dem Abenteuerspielplatz. Und zeitgleich sind da andere Kinder, Kinder wie Aylan eins war, sind auf dem Mittelmeer, klammern sich an ihre Eltern in einem Boot.

Das passiert gleichzeitig. Wir leben alle in einer Welt. Und Menschen erleben zeitgleich so Unterschiedliches.

Einige packen Koffer, voll Sehnsucht auf das Meer. Zeitgleich konferieren andere in Berlin bis tief in die Nacht. Hin und her. Und hin und her. Grenzen öffnen; Grenzen abriegeln; Egoismus pflegen; Verantwortung übernehmen.

Gleichzeitig.

Es ist Sommer. Die Cafés in den Fußgängerzonen sind voll. Ich trinke Cappuccino. Da kommt einer, will die Obdachlosenzeitung seiner Stadt verkaufen. Ich schau nach unten. Kauf ich eine? Irgendwie stört‘s mich. Und zugleich kann ich doch froh sein. Ich, ich muss das nicht: Bangen um jeden Tag. Ich darf hier sitzen, Cappuccino trinken.

Gleichzeitigkeiten - es gibt sie und es gibt sie auch in mir selbst:

Ich bin die und die zugleich. Freundin und Mutter und Pastorin und Frau. Ich glaube, zweifele, suche, singe - zugleich. Und ich fühle vieles zugleich. Wenn etwas stirbt, bin ich traurig und erleichtert und wütend und voller Liebe. Nichts, nichts ist einfach nur schwarz oder weiß.

All diese Gleichzeitigkeiten - manchmal ist das schwer oder gar nicht zu ertragen.

Sonne und Sterben. Grenzen ziehen und Cappuccino. Merkel und Seehofer und Frans und Aylan. Trauer und Wut. Alles auf ein Mal. Wie soll man das aushalten?

Wenn ich nicht mehr weiß, wo ich hinsehen soll, brauche ich Gottes Blick. Ich stelle mir vor: Er sieht mich an. Auch wenn ich nach unten gucke. Und ich spüre: Ich bin geliebt. Mit dem Schwarz in mir. Mit dem Weiß in mir. Und mit allem Grau dazwischen.

Und mitten in dieser Welt mit all ihren Gleichzeitigkeiten sehe ich auch Gott. Er hält die Gleichzeitigen aus. Stirbt, zerrissen von ihnen. Die Arme am Kreuz weit offen. Ich fühle mich umarmt von diesem Jesus.

Er erträgt Hass und Liebe und streckt sich dazwischen aus. Er stirbt, um zu retten. Liebt, sogar den Verräter. Wirft Tische um. Segnet leise. Betet: Lass den Kelch an mir vorüber gehen. Und dann - nimmt er den schweren Kelch.

Alles ist gleichzeitig. So ist sie, die Welt und auch ich selbst, in diesem Leben, das noch auf das Paradies wartet.

Ich kann nicht immer hinsehen. Gott tut es. Er hält aus. Er sieht hin. Das hilft mir. Hinzusehen, auch wenn‘s schwer ist. Und dann tu ich meinen Mund auf: Für das Retten und gegen das Sterben. Und manchmal kauf ich dann eine Obdachlosenzeitschrift, manchmal nicht.

Und zugleich gibt es auch Zeiten, da nehme ich einfach das Paradiesische an, wie es mir begegnet. Und ich spüre die Sonnenstrahlen im Gesicht, höre dem Stimmenkonzert der Fußgängerzone zu. Und trinke Cappuccino.

Es ist alles, gleichzeitig - und ich lebe mittendrin. Mit Gott, der immer da ist, der Liebe hat für Frans und Mia und Aylan, für Sie und mich und alle - Er am Kreuz, die Arme weit offen.

12.01.2018
Elisabeth Rabe-Winnen