Das Wort zum Sonntag: "Seele"

Das Wort zum Sonntag: "Seele"
Pfarrer Ulrich Haag
12.05.2012 - 22:40

Manchmal tritt meine Seele in den Streik. Dann stehe ich vor einer wichtigen Aufgabe und nichts geht mehr. Ich bin plötzlich wie gelähmt. Zugleich sitzen mir die kleinen Antreiber im Nacken, die mir einhämmern, das musst du schaffen, du weißt, was davon abhängt, die andern verlassen sich auf dich, du musst zeigen, dass du gut bist. Aber nichts da. Mein Kopf bleibt leer und ich fühle mich schwer und ich wünsche mir, endlich einmal gar nichts mehr zu müssen und einfach mit allem aufzuhören.

In solchen Fällen hilft es meist, wenn ich eine Weile durch die Felder spaziere. Ich sehe, wie alles wächst und blüht und sage mir, guck, das funktioniert auch ohne dein Zutun. Und du kannst dich immer daran freuen, selbst wenn du etwas nicht geschafft hast.

Aber ich habe auch schon erlebt, was es für ein Gefühl ist, wenn man sich nicht mehr freuen kann. Wenn die Seele wie in einen Mantel gehüllt ist und alles, was von außen kommt, nur noch gedämpft durchdringt. Wenn man weiß, dass man eigentlich glücklich sein müsste, aber man ist es nicht, weil man es nicht fühlt.

Bei mir hat dieser Zustand damals glücklicherweise nicht lange angehalten. Ich hatte jemanden in meiner unmittelbaren Nähe, der sehr aufmerksam mit mir umgegangen ist. Das hat mir geholfen.

Burnout und Depression – so heißen die beiden großen Seelenerkrankungen unserer Zeit. Sie sind verbreitet. Sie sind umstritten. Manche halten sie für ein und dasselbe. Sie äußern sich immer in Angstzuständen oder Herzrasen, in Schlaflosigkeit oder in stummem Rückzug.

Die Betroffenen fühlen sich nicht mehr belastbar, nicht mehr leistungsfähig. Woher das kommt? Die Spezialisten können nur Vermutungen anstellen. Es sieht so aus, dass, wer an der Seele erkrankt, eine Reaktion auf das gesellschaftliche Umfeld zeigt. Der Zustand der Seele spiegelt etwas wider von dem, was sie umgibt: Einen immer höheren Druck auf den einzelnen, zunehmende Arbeitsverdichtung, die Angst, plötzlich vor dem Nichts zu stehen.

Burnout und Depression – wer so eine Krankheit heilen will, darf nicht nur auf Medikamente verweisen. Er muss die Gesellschaft an der Stelle heilen, an der sie aus dem Lot gekommen ist. Er muss vor allem für Arbeitsbedingungen sorgen, unter denen die Menschen wieder Erfüllung finden. Doch wer vermag das?

Während meiner Krise damals habe ich verstanden, dass eine kranke Seele auch mit einem Mangel an religiösem Erleben zu tun haben kann. Ich hatte mir eine Aufgabe zugetraut, für die ich noch nicht reif war. Unablässiger Entscheidungsdruck, Anfeindungen, endlose Termine – irgendwann war ich am Ende. Ein älterer Kollege nahm mich beiseite: Deine Seele spiegelt, womit sie umgeben ist.

Du musst sie in einen anderen Raum stellen. Sie muss wieder spüren, dass es das Reich Gottes ist, in dem sie lebt, und nicht ein Haifischbecken. Spüren, dass es das Reich Gottes ist.. Darauf achte ich seither.

Wenn ich in der Morgendämmerung auf der Terrasse sitze und den Vögeln beim Singen zuhöre, wenn ich meine abendliche Runde drehe, Hand in Hand mit dem Menschen, den ich liebe. Und tatsächlich: Wenn ich an meinem freien Sonntag den Gottesdienst in einer anderen Kirche besuche. Schon beim Betreten des Raumes habe ich das Gefühl, ich bin raus aus der Arbeits- und Leistungswelt. Und ich tauche ein in die langsame, die barmherzige Welt, die von Anbeginn war und immer sein wird und in der meine Seele einen Platz hat.

Ihnen allen eine gute Nacht und einen gesegneten Sonntag.