Sendung zum Nachlesen
Es ist warm in der Kirche. Das ist für viele überraschend. Kirchen sind allgemein dafür bekannt, kühl zu sein. Das macht sie im Sommer eigentlich so attraktiv. Und es ist Sommer. Die Kirche ist voll an diesem Sommerabend. Der Chor meiner Universität, in dem ich mitsinge, hat eine Aufführung. Es ist kein christlicher Chor, aber wir singen ein Oratorium. Unser Chorleiter sagt, es sei quasi wie ein Musical über einen biblischen Charakter. In diesem Fall geht es um Elias, einen Propheten, vertont von Felix Mendelssohn Bartholdy. Wir haben das Stück ein ganzes Semester lang einstudiert. In den Tagen vor der Aufführung gibt es Extraproben. Einige Teile kann ich mittlerweile auswendig. Wir haben sie so oft geübt, dass ich das Gefühl habe, sie sind in mein Gehirn gebrannt.
Das ist für mich wohl das Schönste daran, im Chor zu singen. Man macht sich die Stücke zu eigen, sie werden nicht nur ein Ohrwurm, sondern ein Teil von mir. Oft handelt es sich um Passagen aus der Bibel, die ich auf diese Weise lerne. Mein Studium ist ansonsten nicht darauf ausgerichtet, die Bibel auswendig zu lernen. Ich weiß, dass andere das können und dass es auch in anderen Religionen üblich ist, Teile der Heiligen Schrift zitieren zu können. Das finde ich faszinierend. Bei mir beschränkt es sich auf wenige Sprüche und Verse. Aber hier kommt der Chor ins Spiel. Natürlich gibt es auch Brutalität in diesem Oratorium, in der Geschichte von Elias wird viel gemordet. Aber es gibt auch viel Trost. „Fürchte dich nicht, spricht unser Gott. Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Ich helfe dir.“ Das ist mal ein guter Ohrwurm. Er ist wie ein bestärkendes Mantra, das mich durch den Tag trägt. „Fürchte dich nicht“. Ich singe es vor mich hin, während ich mein Frühstück vorbereite. Ich summe es auf dem Fahrrad. Es gibt mal wieder keinen Fahrradweg, darum muss ich auf der Straße fahren. „Fürchte dich nicht“. Ich lerne für meine Prüfungen und verfalle in leichte Panik. „Ich bin mit dir. Ich helfe dir.“ Es ist genau der Trost, den ich brauche. Ich mache mir generell zu viele Sorgen und habe unbegründet Angst. Wenn mein zukünftiges, vielleicht 80-jähriges Ich mit mir sprechen würde, würde es garantiert sagen, ich solle mir nicht so viele Sorgen machen. Mich nicht so viel fürchten. Stattdessen sollte ich lieber öfter einen guten Ohrwurm haben. Und so singe ich dann bei der Aufführung die Worte aus voller Kehle und hoffe, dass ich mich noch lange an ihren Klang erinnern werde.