Wort zum Tage
Verletzlichkeit
06.07.2019 06:20
Sendung zum Nachlesen

Ich bin vor einem halben Jahr in ein anderes Stadtviertel umgezogen. Ich kenne die meisten Straßen in der Umgebung und die Bushaltestellen. Ich weiß, wo es gemütliche Cafés gibt und von wo aus ich am schönsten in den Himmel blicken kann. Aber ich weiß nicht genau, wer noch alles in meinem Haus lebt. Wie die Menschen heißen, von denen ich nur durch eine Wand getrennt bin. Einige kenne ich natürlich, vor allem vom Sehen, oder wenn wir gegenseitig füreinander Pakete angenommen haben. Aber es ist immer bei einem Hallo und einem Dankeschön geblieben. Ich habe Freundinnen hier in der Stadt, bei denen es anders ist: Da kennen sich alle im Haus. Sie ruhen sich nicht auf der sogenannten Anonymität der Großstadt aus.

Aber was, wenn ich meine Nachbarinnen näher kennenlerne und mich dann nicht mit ihnen verstehe? Dann begegne ich ihnen trotzdem weiter im Flur. Wenn wir uns miteinander vertraut machen, schützt die Anonymität uns nicht mehr. Dann kann ich mich nicht mehr über Lärm im Hinterhof aufregen, weil ich die Leute kenne, die sich da streiten, und weil ich Mitgefühl entwickelt habe. Wäre das wiederum so schlimm? Warum habe ich mich dann meiner neuen Nachbarschaft nicht vorgestellt? Aus Furcht davor, zu sagen: „Hier bin ich und ich will Kontakt.“ Aus Angst, dass sie mich komisch finden oder mich nicht mögen. Die US-amerikanische Forscherin Brené Brown sagt: „Wir müssen das Risiko eingehen und uns verletzlich machen, wenn wir Verbundenheit erleben wollen“. Unter Freundinnen fällt es mir nicht so schwer, mich verletzlich zu machen. Unter Fremden ist das eine ganz andere Sache.

Ein zweites Thema: In meinem neuen Viertel war ich noch nicht in der Kirche. Es gibt genügend zur Auswahl. Aber ich habe ein bisschen Angst vor…, ja, vor meiner Verletzlichkeit? Manchmal geht man in einen Gottesdienst und niemand guckt einen an. Wenn ich als neue Person in einer Gemeinde nicht beachtet werde, finde ich das merkwürdig: So ignoriert Kirche hier neue Leute wie mich. Manchmal passiert aber auch das Gegenteil, und davor habe ich mindestens genauso viel Angst. Man geht in eine neue Gemeinde und man wird direkt angesprochen: ob man neu ist, wie es einem geht. Das erscheint mir dann ebenfalls merkwürdig: So verschreckt Kirche hier neue Leute wie mich.

Es bleibt schwierig. Ich will Gemeinschaft und dann auch wieder nicht. Ich will Verbundenheit, habe aber Angst davor. Wie war das? „Wir müssen das Risiko eingehen und uns verletzlich machen, wenn wir Verbundenheit erleben wollen“. Dann muss ich wohl ein bisschen mutiger werden.

 

Es gilt das gesprochene Wort.