Predigt zum Nachlesen
Knallrote Luftballons sind sein Markenzeichen. Sie kommen plötzlich aus der Kanalisation und fliegen dann, wie von unsichtbarer Geisterhand gelenkt, durch die Straßen der kleinen Stadt. Mit ihnen lockt Pennywise, der böse Clown, kleine Kinder an – und das Unheil nimmt seinen Lauf! „Es – Teil 2“, das ist einer der Filme, den sich zur Zeit tausende Menschen in den Kinos ansehen. Ich hab ihn mir auch angeschaut und hab‘s mir wie die anderen mit Popcorn und Cola im Kinosessel gemütlich gemacht, um mich zu gruseln. „Es“, also „das Böse“, treibt auf der Leinwand sein grausames Spiel. Fast endlose zweieinhalb Stunden „jump scares“ am laufenden Band, einer nach dem anderen, Erholung ausgeschlossen: Schockmomente voller Blut, Schleim und Krach und einem außer Rand und Band geratenen Killerclown, der unzählige Male aus dunklen Ecken auf die Kamera zuspringt und die Zähne fletscht. Wer‘s mag... Geschmacksache, ganz klar!
Aber das eigentlich Interessante: das Spiel mit der Angst, dem sich neben mir im Kino so viele andere ausgesetzt haben. Pennywise würde ich im Leben nicht begegnen wollen, um Gottes Willen! Aber so für 8 Euro aus der sicherer Distanz des Kinosessels heraus... – das ist was anderes!
Aber was, wenn die Angst kein Film, kein Spiel mehr ist? Wenn sie sich in unser Leben einschleicht, ganz real? Wenn es wirklich ans Eingemachte geht in meinem Leben? Schon Schüler machen diese Erfahrung. Wenn eine schwierige Probe ansteht, beispielsweise. Wenn ein junger Mensch verliebt ist und nicht weiß, wie er damit umgehen soll. „Sie wird mich abblitzen lassen, ich hab doch keine Chance!“ „Ich bin nicht schön! Deshalb schaut er mich nie an!“ Oder wenn schon kleine Kinder um die Sicherheit zuhause bangen müssen, weil die Erwachsenen sich ewig streiten. Und genau dasselbe ja auch bei uns „Großen“. Da hat sich doch seitdem wir Kinder waren, nichts verändert: Wenn auch bei uns eine schwierige „Probe“ ansteht. Wenn Gefühle in uns sehr stark werden und wir von ihnen beherrscht werden. Eine Veränderung am Körper, eine Verhärtung in der Brust, die Müdigkeit seit Wochen! Oder am Arbeitsplatz: Der Kollege, der einem Angst macht. Oder wie mir jemand erst vor Kurzem erzählte: „In unserer Firma werden Stellen abgebaut. Ich habe so große Angst, dass es auch mich trifft!“ Wenn so etwas passiert, dann sind wir mit unserem ganzen Sein konfrontiert, mit Ängsten, haben keine Distanz zu ihnen, wie wenn wir uns einen Gruselfilm im Kino ansehen.
Kind, Jugendlicher, Erwachsener, egal, wie alt wir sind: Wir kennen Ängste, in jeder Lebensphase. Sie sind Teil unseres Lebens, ob uns das passt oder nicht! Die Angst, nicht zu bestehen, in der Schule, im Job. Die Angst, verlassen zu werden – von den Eltern, von der Partnerin, vom Partner, von den Kindern. Die Angst zu sterben. Todesangst.
Die Jünger im Boot auf dem See, ihnen zieht es buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Ihr Boot wird im Sturm von den Wellen hin und her geworfen. Ich seh es richtig vor mir, wie sie versuchen, sich am Mast, am Steuer, an der Reling festzuklammern, um nicht über Bord zu gehen. Ich höre ihre Schreie, Wortfetzen, die sie sich angstvoll zurufen, aber die sofort vom Brüllen des Windwirbels verschluckt werden. Das ist eine Angstgeschichte, eine richtige! Sie trifft mich viel mehr als die von Stephen King. Denn ich weiß: So ist das Leben. Das ist real! So hab ich das auch schon oft selber erlebt: Als Kind, als Student, als erwachsener Mann, auch als Pfarrer. Die Geschichte vom Sturm auf dem See wurde vom Leben selbst geschrieben. Und sie ereignet sich jeden Tag. In meiner Stadt, in meiner Straße, im Flüchtlingsheim nebenan, manchmal auch in meinem Haus. Die Wogen im Sturm der Angst werfen mich umeinander. Und kein Horizont ist in Sicht. Um mich herum nur Chaos. Und auch in mir. Chaos. Gedankenkarussell. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. „Da komm ich nie wieder raus!“
Plötzlich ist Jesus da. Mitten auf dem See. Mitten im Sturm. Ganz nah bei den Fischern. Und er sagt: „Fürchtet euch nicht!“ – Das ist Balsam für die Seele, wenn in den Stürmen des Lebens ein lieber Mensch sagt: „Fürchte dich nicht!“ Denn mit diesem Satz sagt er mir ja auch: „Ich bin bei dir. Ich bin da. Ich steh dir bei. Dieser Sturm ist heftig, ja. Aber er währt nicht ewig. Fürchte dich nicht!“
Wenn ein Mensch mir beisteht in meiner Angst und sagt „Fürchte dich nicht!“, dann kann ich zumindest wieder eine kleine Hoffnung bekommen. Das Chaos lichtet sich vielleicht für einen Augenblick. Ich kann den Blick von den Wogen weg und hin zu neuen, guten Möglichkeiten wenden – und zaghaft einen nächsten Schritt tun, handeln. Wenn ich mich zur Ruhe und Vernunft bringen lasse, mich nicht überrollen lasse vom Sturm meiner Angst. Dann... ja, dann habe ich Handlungsspielraum. Aber das ist schwer! Denn die Stürme des Lebens können Orkane sein. Sie gleichen entfesselten Naturgewalten. Da einen klaren Blick und einen kühlen Kopf zu bewahren, das geht nur mit Hilfe von guten Menschen und mit Vertrauen in Gottes Beistand.
So geht es auch Petrus. Er will vertrauen, wendet den Blick weg von der Gefahr und geht Jesus entgegen. Aber gleich nach den ersten Schritten droht er wieder in Angst zu versinken. „Herr, rette mich!“, schreit er! „Herr, rette mich!“
Der Apostel Paulus schreibt einmal: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (1. Tim 1,7) Der Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit, der „heilige“ Geist, wie wir ihn in unserer Religion bezeugen und wie er auch im Judentum und im Islam bezeugt wird. „Ich glaube an den Heiligen Geist“, so heißt es im Glaubensbekenntnis, das wir in jedem Gottesdienst sprechen.
Der „Heilige Geist“, ganz klar, damit tun wir uns nicht leicht. Aber es ist wunderbar, dass die Religionen deutlich sagen: „Heiliger Geist“, das hat mit Begeisterung, Freude, Kraft, Lebenslust zu tun – das ist ein Teil Gottes, ein Teil des Lebens, ein Teil von mir. Ich spüre das gerade dann, wenn es mir gut geht: im Gespräch mit Freunden, beim Sport, ein Urlaubstag mit der Familie.
Vom Heiligen Geist erzählt die Bibel in Bildern. Mit verschiedenen Symbolen wird er dargestellt: der Heilige Geist als Wind, als fließendes Wasser, als Quelle, als Feuer. Das bekannteste Bild ist die schöne, weiße Taube. Sie steht für Reinheit. Und für Schadlosigkeit. Die Bibel berichtet, dass Jesus sich im Wasser des Flusses Jordan von seinem Cousin Johannes taufen lässt und dass der Heilige Geist in Gestalt einer Taube auf ihn nieder kommt. Ein wunderbares Bild! Der Himmel öffnet sich über einem Menschen und er wird erfasst und erfüllt von der Kraft Gottes. Neben all den Ängsten, die unser Leben immer wieder bestimmen, gibt es doch auch genau diese Momente: Wenn sich der Himmel über mir öffnet und Begeisterung mich überkommt. Entflammt. Momente, in denen ich die ganze Welt umarmen möchte.
„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Diese Zusage gilt uns heute. Auch wir drohen unterzugehen in unserer Angst. Aber wenn wir uns dieser Zusage nicht verweigern, können wir auch in den schweren Zeiten des Lebens Sätze sprechen, die uns vielleicht erst einmal fremd und neu erscheinen: „Ich schaff das!“ „Ich kann das!“ „Ich trau mich!“ „Das wird gut ausgehen!“ „Ich darf das!“ „Ich misch mich da jetzt ein!“
Dieser Vers von Paulus sagt uns: Traut Euch! Denn Ihr habt Gottes Geist, der Euch befähigen will, der Euch stärken will, der Euch mit Begeisterung erfüllen will fürs Leben.
Habt Mut so zu sein, wie Ihr wirklich seid! Fürchtet Euch nicht!
Habt Mut zu sagen, was Euch wichtig ist! Steht zu Eurer Meinung. Steht zu Euren Gefühlen. Und macht den Mund auch auf für die, die keinen Fürsprecher haben: wenn einer gemobbt wird am Arbeitsplatz, wenn gehetzt wird über Menschen, die hierher geflüchtet sind.
Habt Mut, Liebe zu zeigen, zu leben! Das ist nicht peinlich! Davon kann‘s nicht genug geben auf der Welt. Wenn Ihr jemanden mögt, wenn Euch jemand sympathisch ist, dann zeigt ihm das: lächelt diesen Menschen an, dankt ihm für das, was er Gutes tut, schließt Freundschaften mit lieben Menschen. Auch Freunde kann man nicht genug haben!
Aber wenn der Sturm gewaltig ist? Wenn sich die Wogen der Angst um uns herum auftürmen und wir Angst haben, unterzugehen?
„Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein!“, lässt Gott durch den Propheten Jesaja sagen. „Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen.“ Ja. Wir können nicht alles machen. Klar, wir können vorsorgen, planen, Berater hinzuziehen, wenn wir in der Klemme sind. Aber wir können nicht alles machen. Nein. Etwas müssen wir auch Gott überlassen. Loslassen. Irgendwann sogar alle bisher bewährten Tricks, Strategien und Ratschläge, die uns gegeben wurden. Wenn nichts mehr geht: loslassen. Setzen. Die Augen schließen. Die Hände in den Schoß legen. Es Gott übergeben. Ihm überlassen. „Herr, rette mich!“, ruft Petrus. Gott ist am Werk in unserem Leben. Aber auf seine Weise.
Wir müssen nicht untergehen. Nein.
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.