Sie ist in keinem Kalender verzeichnet – und muss irritieren, wenn von ihr die Rede ist: die Phase "zwischen den Jahren". Und doch gab es sie, ist sie historisch belegt. Sie stammt aus einer Zeit, in der sowohl der 25. Dezember, der 1. Januar als auch der 6. Januar als Jahresbeginn gefeiert werden konnten. Erst im 17. Jahrhundert wurde der 1. Januar als offizieller Beginn des neuen Jahres festgelegt. Die Zeit, die zwischen den unterschiedlichen Jahresanfängen lag, wurde folglich als Zeit "zwischen den Jahren" bezeichnet.
In meinem Lebensgefühl gibt es sie nach wie vor. Das laufende Kalenderjahr ist praktisch vorüber, das neue schon in Sichtweite. Nicht mehr und noch nicht – jeder und jede kennt wohl Zeiten solcher Übergänge im eigenen Leben – auch jenseits des Jahreswechsels. So, als stehe man zwischen zwei Räumen. Oder auf der Schwelle zwischen Drinnen und Draußen. Kein Ort, an dem man sich gerne aufhält.
Die Tage nach Weihnachten sind eine besondere Zeit. Ich habe sie zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, als ich ein Geschenk auspackte und die "Lektüre zwischen den Jahren" in Händen hielt. Das war vor mehr als dreißig Jahren. Ein kleines Taschenbuch mit Lyrik und kurzen Prosa-Stücken. Geistreiches, Nachdenkliches, Gedanken auch für andere Zeiten des Jahres. In der aktuellen Ausgabe steht das Motto "Zur Ruhe kommen" im Mittelpunkt.
Gut gewählt, denke ich mir, denn das hätte auch ich dringend nötig. Beschleunigung ist das Phänomen unserer Zeit, analysiert der Soziologe Hartmut Rosa. Die Perspektive, die er aufzeigt, klingt nicht gerade zuversichtlich, wenn er in der Beschleunigung eine neue, abstrakte Form des Totalitarismus sieht. So schlimm kommt es hoffentlich nicht, aber wer fühlt sich nicht immer wieder als Sklave seines Terminkalenders?
Kann ich überhaupt dem Zeitdruck entgehen? Bleibt das nicht ein frommer Wunsch? Hartmut Rosa sieht es so: Bürger moderner Gesellschaften könnten ihre durchaus üppige Freizeit genießen. Sie leiden paradoxer Weise jedoch unter Zeitknappheit. Der Grund: Sie wollen möglichst viele Optionen realisieren. Und da sie sich nicht entscheiden können, sondern immer denken, sie verpassen etwas, wächst der Stress ins schier Unerträgliche.
"Meine Zeit steht in deinen Händen", heißt es in Psalm 31. Der Beter dieses Psalms wechselt radikal die Perspektive. Er kommt für sich selbst zu dem Schluss, dass er nicht autonom lebt, sondern "In Gottes Händen geborgen. Wer das für sich annehmen kann, dem könnte es tatsächlich gelingen, gelassener zu leben. Das Tempo zu drosseln. In der Ruhe Kraft zu finden.
Gelingen könnte dies, wenn man Zeit nicht nur als Quantität, sondern auch als Qualität wahrnimmt. Es um erfüllte Zeit geht und nicht nur um gefüllte Zeit. Die griechische Sprache kennt zwei Begriffe: Chronos und Kairos – die fließende Zeit und der Augenblick. Chronos – das ist die Uhr am Handgelenk, der Chronometer, die Chronologie, die die Abfolge von Ereignissen ordnet. Die dahinfließende Zeit. Ihr gegenüber steht der Kairos, der erfüllte Augenblick, die Gelegenheit – bildlich gesprochen – beim Schopf ergriffen. Der entscheidende Moment, er wird nicht nach Dauer gemessen, sondern bekommt seine Bedeutung allein durch das, womit er gefüllt ist. Der Kairos ist die Zeit für etwas: für ein Gespräch – immer wieder aufgeschoben, für eine Geste der Zuneigung – lang ersehnt. Oder einfach: Zeit für mich – einfach dasitzen oder stehen, innehalten, leben.
"Ich geb die Zeit – mach du was draus." Das ist kein Bibelvers. Dieser Satz ist die Aufschrift auf einer Stundenglocke. Der Besitzer eines Landschlosses im Südosten Hannovers ließ sie gießen als Ersatz für ihre in die Jahre gekommene Vorgängerin. Die Botschaft ist klar: An Gott soll denken, wer den Schlag dieser und natürlich auch anderer Glocken hört. Das Glocken-Motto kommentiert das Psalmwort. Im Wissen um die Geborgenheit bei Gott Verantwortung übernehmen für alles Tun und Lassen – auch im Blick auf den Umgang mit der Zeit. Zwischen den Jahren ist gute Gelegenheit für einen Anfang.