Der letzte Tag des Jahres ist angebrochen. In ein paar Stunden ist 2015 Geschichte.
Man könnte es zum Jahreswechsel mit dem Psychotherapeuten und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick halten und mit einer gewissen Gleichgültigkeit sagen: "Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst". Doch die Kräfte der Verunsicherung schlagen schwer aufs Gemüt. In manchen Rückblicken wird 2015 als Epochenjahr bezeichnet. Und der ausgesprochene oder unausgesprochene Begleittext lautet: Es kann alles nur noch schlimmer werden. Das ist Wasser auf die Mühlen jener, die den Untergang hinter jeder Ecke wittern. Und das, obwohl sie doch selbst zumeist gar keine Not leiden, es sich ganz gemütlich und mitunter sogar komfortabel eingerichtet haben.
Für mich gehört es zu den festen Ritualen, den Gottesdienst zum Jahresschluss zu besuchen.
Einer der biblischen Texte, die für diesen Tag vorgesehen sind, ist bemüht, die aufkommende Unruhe zu dämpfen mit dem Hinweis, dass, wer Gott auf seiner Seite hat, nichts mehr zu befürchten hat. Ein anderer Text ruft zur Umkehr auf, Orientierung bietet im biblischen Sinne die Wolken- und Feuersäule, die schon dem Volk Israel durch die Wüste den Weg wies. Und die neutestamentlichen Abschnitte verweisen auf Jesus: Im Glauben an ihn festzuhalten, mache frei und beständig.
Biblische Texte, die helfen, dass sich das schleichende Gift der Verunsicherung nicht weiter ausbreitet. Denn jetzt sind – in der Politik wie in der Gesellschaft – die Verantwortungsbewussten gefragt. Die Kräfte der Vernunft, der Besonnenheit und der Zuversicht brauchen jede Unterstützung, damit sie sich am Ende durchsetzen. Wie gut, dass neben den biblischen Texten auch die Lieder im Gesangbuch zur "Jahreswende" den Ton der Hoffnung anschlagen.
Paul Gerhardt zum Beispiel: "Schließ zu die Jammerpforten und lass an allen Orten auf so viel Blutvergießen die Freudenströme fließen."
Oder Jochen Klepper: "Der du die Zeit in Händen hast, Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen."
Oder Dietrich Bonhoeffer: "Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag."
Gerhardt, Klepper und Bonhoeffer – sie alle haben von der Geschichte schwer gezeichnete Biographien, haben selbst großes Leid erfahren. Und dann dichten sie so kraftvolle Trostworte! Als wären sie für diesen Jahreswechsel geschrieben.
Für mich ist nach wie vor Dietrich Bonhoeffer die bemerkenswerteste Persönlichkeit. Sie taugt zum Vorbild. Dem Ungeist des Nationalsozialismus begegnete er mit entschiedenem Widerstand. Er predigte Liebe, wo Hass und Terror sich breit machten. Mit ihm lässt sich auch heute gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit das Wort ergreifen. In seinen Notizen kurz vor seiner Verhaftung, zum Jahresende 1942/43, stehen Sätze wie dieser: "Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll." Und an anderer Stelle schreibt er: "Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen." Man könnte auch sagen: Menschen, die eine Haltung einnehmen, eine Überzeugung leben, die von Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit geprägt ist.
In seiner "Ethik" formulierte Bonhoeffer: "Das einzig fruchtbare Verhältnis zu den Menschen – gerade zu den Schwachen – ist Liebe, d.h. der Wille, mit ihnen Gemeinschaft zu halten." Dieser Satz hat nichts an Bedeutung verloren. Er setzt auch heute den Maßstab für das Verhalten gegenüber allen Menschen – seien sie Juden, Muslime, Christen, Atheisten.
Wer in dieser Liebe handelt, der lässt tatsächlich geschehen, was mit Bonhoeffers Worten heute Abend in wohl keinem Gottesdienst fehlen dürfte: "Von guten Mächten wunderbar geborgen / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag."