Feiertag
Unterbrechung von Gewalt
Wozu Religionen beitragen können
20.12.2015 06:05

Die Szene aus der Weihnachtsgeschichte ist bekannt und beliebt. Gerade hat der Engel des Herrn den Hirten auf den Feldern vor Bethlehem, die ihre Schafe hüten, die Geburt des Erlösers angekündigt, da weitet sich der Horizont:

 

„Und plötzlich war bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

 

Friede auf Erden. Jedes Jahr wird zu Weihnachten die Frage wieder aktuell, ob die Friedensbotschaft der Engel denn überhaupt gehört worden sei auf der Welt. Zwar wird in den heiligen Schriften, in der Bibel wie im Koran, Gott als Macht des Friedens, als barmherzig und gerecht bezeichnet. Aber ist es nicht eher so, fragen viele Menschen, dass die Religionen zu Gewalt, Terror und Krieg beitragen?

Besonders die im Namen des sogenannten Islamischen Staates am 13.November verübten Terroranschläge in Paris haben diese Frage wieder bedrängend nahe gebracht. Sind doch die Attentäter mit dem Ruf „Groß ist Gott, Allahu Akbar“ in die Restaurants und ins Bataclan gestürmt und haben 130 Menschen getötet. Welch eine schreckliche Blasphemie! Obwohl alle offiziellen islamischen Gremien in Europa sich von den Anschlägen distanzierten und mit um die Opfer trauerten, stellen besorgte Zeitgenossen immer wieder die Frage, ob der Islam nicht doch Gewalt befördere. Ähnlich wird gefragt, wenn Attentate von fundamentalistischen christlichen, jüdischen, hinduistischen und buddhistischen Gruppen oder Einzeltätern begangen werden. Doch Soziologen und Politologen, die sich mit der Rolle von Religion in gewalttätigen Konflikten beschäftigen, kommen zu dem Ergebnis, dass Religion nicht ursächlich für die Gewalt verantwortlich sei. Die drei großen monotheistischen Religionen sind im Kampf mit den Unbilden der Natur und den Göttern der Umwelt entstanden. Sie enthalten deswegen viel aggressives Sprachmaterial. Dieses kann aus seinem Kontext gelöst und für politische Zwecke missbraucht werden. Der Tübinger Friedensforscher Andreas Hasenclever konstatiert, dass die Rolle der Religion bei gewaltsamen Konflikten und terroristischen Aktionen zu stark betont werde. Das sei vor allem jener westlichen Publizistik geschuldet, die eine grundsätzlich religionskritische oder gegenüber Religion ambivalente Einstellung habe. Sie mache sehr schnell religiöse Faktoren, die sich nicht dem westlichen Verständnis von Religion als Privatsache unterordnen, dafür verantwortlich.

Die Brutalität von Konflikten hängt also entscheidend nicht von religiösen Faktoren ab. Ethnische und ideologische Konflikte sind von ähnlicher oder noch größerer Brutalität. Hasenclever sagt:

 

„Menschen sind offenbar auch ohne ihre Götter in der Lage, sich bis aufs Blut zu bekämpfen. Mit Blick auf die Intensität der Gewalt lässt sich jedenfalls kein Unterschied zwischen religiösen und säkularen Konflikten erkennen(…)Um es überspitzt zu sagen: Ob Gewalt im Namen von Religion, Ideologie oder Ethnizität gerechtfertigt wird, ist für die konkreten Konfliktverläufe etwa so bedeutsam wie der Unterschied zwischen Wodka, Whisky oder Gin für die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen.“

(A.Hasenclever, Zwischen Himmel und Hölle, in: W. Weiße u.a., Gewaltfreiheit, 2016, 53ff)

 

Religiöse Begründungen für Gewaltakte können ohne weiteres durch andere Motivationen ersetzt werden. Vor allem aber beruhten die religiösen Begründungen, die für Gewaltanwendung gegeben werden, auf etwas, das Andreas Hasenclever „halbierte Religion“ nennt. Was meint er damit?

 

Religionen versuchen angesichts der Zufälligkeit des menschlichen Lebens unter Bezug auf eine letzte Instanz, Gott genannt, Unheil abzuwehren, Krisen zu bewältigen und Heil herbeizuführen. Sie tun das mit Riten, Liedern und Gebeten, die sich kritisch mit der gegenwärtigen Verfasstheit von Welt auseinandersetzen.

 

Eine Religion nun, die kurzschlüssige und emotional- irrationale Antworten auf Weltprobleme gibt, ist nach Hasenclever nicht im vollen Sinn Religion, sie ist halbiert.

Eine solche halbierte Religion war beispielsweise die Kriegstheologie der evangelischen wie katholischen Geistlichen im 1.Weltkrieg, die in ihren Predigten eifernd die deutsche Sache rechtfertigten. Die christliche Weltsicht mit ihrer Friedensverantwortung wurde letztlich durch einen religiös aufgeladenen Nationalismus ersetzt. „Gott ist mit uns, wie er mit unseren Vätern war“, sagte Kaiser Wilhelm II. – und mit ihm viele Pastoren, die sich darin für überzeugte Christen hielten. Eine solche halbierte Religion ist gegenwärtig die Beanspruchung des Islam für politische Ziele durch den IS und andere terroristische Organisationen. Ihre Praxis, durch Anschläge mit möglichst vielen Toten Aufmerksamkeit zu erreichen und Angst zu erzeugen, widerspricht zutiefst dem muslimischen Glauben an einen barmherzigen Gott.

 

 

Während über die Verbindung von Religion und Gewalt zur Zeit viel geschrieben wird, wird der Zusammenhang von Religion und Frieden leider wenig beachtet. So hat die vom Ökumenischen Rat der Kirchen 2001 initiierte Dekade zur Überwindung von Gewalt

öffentlich kaum Resonanz gefunden. Dabei hat sie in vielen Gemeinden fruchtbare Bewusstseinsbildung in Gang gebracht und die Sensibilität für Gewaltphänomene in ihrem Umfeld verstärkt. Die Dekade setzte ganz breit an und nannte viele große Themen für friedens- und versöhnungsorientierte Christen.

 

Globalisierung und Armut, Frieden in Nahost, Überwindung von Krieg und Terror, Bewahrung der Schöpfung Gewalt in den Familien und in den Medien.

 

Mit Recht wurde gegen diesen ökumenischen Ansatz eingewandt, dass es weniger um Überwindung von Gewalt als um religiös begründete Unterbrechung von Gewalt gehen muss. Erinnert sei an den sogenannten Gottesfrieden, den in der Antike praktizierten zeitweiligen Waffenstillstand zwischen kämpfenden Gruppen zu den Zeiten religiöser Kultfeiern. In diesem Sinne hat z. B. Papst Paul VI. Weihnachten 1967 zu einem Bombardierungsstop im Vietnamkrieg aufgerufen. Und nicht von ungefähr wurde das kurz vor Ostern 1998 ausgehandelte Abkommen, mit dem der Frieden zwischen der IRA und England in Nordirland eingeleitet wurde, Karfreitagsabkommen genannt. Religion kann durch ihre Botschaft zur Unterbrechung von Gewalt beitragen. Wie diese in gewaltförmigen Konflikten zu Geltung kommt, wie sie dazu beiträgt, das Vertrauen in gewaltfreie und rechtliche Konfliktlösungen wiederherzustellen und damit den Prozess der Gewaltverringerung zu stabilisieren, vor allem darauf kommt es an.

 Entgegen den biblischen Utopien ist Gewalt nicht gänzlich aus der Welt zu schaffen. Aber die Ersetzung von Gewalt durch rechtlich-institutionelle Formen kann ausgedehnt werden, die Versöhnung verfeindeter Gruppen kann mit Hilfe überzeugter, aus der Gnade Gottes lebender religiöser Gemeinschaften befördert werden. In solchen Unterbrechungen bleibt dann wiederum doch die Strahlkraft der großen biblischen Vision wirksam, die der Prophet Jesaja beschrieben hat:

 

 „Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“

 

 

Die Verpflichtung auf Gewaltfreiheit, Jahrhunderte lang vor allem eine Sache der Täufer und Friedenskirchen, ist großkirchlicher Konsens geworden. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ verkündigte der Weltkirchenrat nach dem Inferno des 2.Weltkriegs auf seiner Tagung in Amsterdam 1948. Bereits die Drohung mit Atomwaffen widerspricht dem Liebesgebot Christi, erklärte die reformierte Kirche der Niederlande 1979. Hunderttausende von Christen in Westdeutschland wurden von diesem sogenannten „holländischen Bazillus“ angesteckt und engagierten sich in den 80erJahren im Protest gegen die atomar bestückten Mittelstreckenraketen.

Einen gerechten Krieg kann es nicht mehr geben, sagte die Evangelische Kirche in Deutschland 2007 in ihrer neuesten Denkschrift zum Thema, nur einen gerechten Frieden. Umstritten ist, ob zu dessen Erreichung im äußersten Fall auch militärische Gewalt zum Einsatz kommen dürfe. Im Klartext: darf,um bedrohte Bevölkerungsgruppen zu schützen, auch bombardiert werden. So war es im Kosovokrieg, so in Libyen, so tun es jetzt westliche Staaten und Russland im syrischen Bürgerkrieg. So hat auch das deutsche Parlament leider Anfang Dezember beschlossen Tornadoflugzeuge zur Bekämpfung des IS nach Syrien zu schicken.. Doch frühzeitig eingesetzte zivile Konfliktlösung und die Ausbildung und Entsendung von Friedensarbeitern wäre, wie die Balkankriege zeigten, die bessere Option. Leider wurde sie nicht energisch genug angegangen.

 

 

Religiöse Friedensverkündigung und religiöse Verbundenheit können Gewaltprozesse nachhaltig unterbrechen. Eine Kirchengemeinde, die sich der Fremdenfeindlichkeit in ihrem Stadtteil entgegenstellt, christliche Gruppen und einzelne, die bei gewaltförmig ausgetragenen Demonstrationen dazwischen gehen, das z. B. sind religiös begründete Formen der Unterbrechung von Gewalt hierzulande.

Ich will weitere Beispiele anführen, in denen die Friedensbotschaft der Engel von Bethlehem sich offenbar auf der Erde ausgewirkt hat.

Eine Möglichkeit, Frieden zu schaffen, ist das versöhnende Wort, das den ehemaligen Gegner um Verzeihung bittet. So sagte die sogenannte Ostdenkschrift der EKD 1965:

 

Was zwischen einzelnen möglich ist, nämlich Versöhnung, muss doch auch zwischen Völkern möglich sein. Wir können nicht Unrecht gegen Unrecht aufrechnen. Deutschland hat mit Krieg und Vertreibung begonnen, wollte Polen von der Landkarte tilgen und muss die Folgen, die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien anerkennen.

 

Die Aussöhnung Deutschlands mit den östlichen Nachbarn beruht auf dieser vorgängigen Anerkennung der eigenen Schuld.

Im Gefolge des durch die Ostdenkschrift ausgelösten Umdenkens wandten sich die katholischen Bischöfe Polens in einem Hirtenbrief an die deutsche Bischofskonferenz mit dem Satz: wir vergeben das massive Unrecht, das Deutschland an Polen beging und wir erbitten Vergebung für das Unrecht, das bei der Vertreibung der Deutschen begangen wurde. Man könnte sagen, dass der Versöhnungsimpuls der EKD den Boden bereitet hat für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik und die Entspannungspolitik.

 

 

Zu dem christlichen Modell der Versöhnung gehört auch das südafrikanische Konzept der Wahrheitskommission. Nach der Abschaffung der Apartheid wurden unter dem Einfluss der Kirchen und besonders von Bischof Desmond Tutu Wahrheitskommissionen eingerichtet, die in anderthalb Jahren die Vergangenheit des geschehenen Unrechts aufarbeiten sollten:

 

Täter und Opfer sollten sich begegnen, die Täter sollten erzählen, wie sie ins Unrechtsystem geraten waren, was sie dort taten und die Opfer um Verzeihung bitten, ohne dass die Vergehen strafrechtlich verfolgt wurden. Absicht war, so eine gemeinsame Zukunft ohne jahrelange juristische Verfahren zu ermöglichen. Also eine Versöhnung, die die Wahrheit nicht verschweigt, eine Art Täter-Opfer-Ausgleich. Obwohl in vielen Fällen nicht recht erkennbar war, dass die Täter ihre Taten wirklich bereuten, hat dieses Modell einer friedlichen Lösung doch einigermaßen funktioniert. Inzwischen hat man das Verfahren der Wahrheitskommissionen auch in anderen Ländern nach Unrechts- und Bürgerkriegs- Situationen angewandt.

 

Gemeinden, die Gewaltfreiheit in der Nachfolge Jesu praktizierten, sind in der Kirchengeschichte die große Ausnahme gewesen. Die Leipziger Friedensgebete und Montagsdemonstrationen im September und Oktober 1989 waren mit ihrem Ruf „Keine Gewalt!“ ein glücklicher Moment gewaltfreier Veränderung.

 

„Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete“,

 

sagte später Horst Sindermann vom SED-Zentralkomitee. Die Friedensgebete in der Nikolaikirche, angeleitet von den Pastoren Christian Führer und Christoph Wonneberger, haben von Anfang an demonstrativ auf Gewaltlosigkeit gesetzt. Der berechtigte Wunsch nach Reisefreiheit, freien Wahlen und mehr Demokratie wurde vor Gott ins Gebet gebracht. Die Einschüchterung, die von der offensichtlichen Anwesenheit von Stasi-Spitzeln ausging, wurde durch ihre öffentliche Benennung unterlaufen. Das Vertrauen auf die im Wort anwesende Friedensmacht Gottes konnte sich in Liedern und Gebeten entfalten. Sie wirkte bis hinaus auf die Straße, wo die geballte Staatsmacht wartete, aber dann nicht einschritt, als Zehntausende Demonstranten sich zu einem Zug durch die Stadt formierten und das Lied der Bürgerrechtsbewegung sangen.

 

 

Religiöse Autoritäten können bei der Beilegung von Gewaltkonflikten eine wichtige Rolle spielen. Hierzu zählen die Vertrauensbildung zwischen den Konflikt-Parteien auf der Grundlage gemeinsamer Werte und das Angebot eines neutralen Verhandlungsforums sowie die Überwachung von Friedensvereinbarungen.

So spielte 1953 bei der Aushandlung des Waffenstillstands zwischen Nord-und Südkorea die ökumenische Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten eine wichtige Rolle.

1986 war die weitgehend gewaltlose Überwindung der Unterdrückungsherrschaft des philippinischen Diktators Marcos in erster Linie dem Engagement weiter Teile der katholischen Kirche zu verdanken. Vor allem Ordensleute und Priester überzeugten das Volk von einem gewaltlosen Vorgehen und legten den Grundstein für den Erfolg der sogenannten Rosenkranz-Revolution.

In den letzten Jahren sind in Afrika eine Reihe interreligiöser Friedensinitiativen entstanden, über die in den Medien kaum berichtet wird. Denn leider haben blutige Ereignisse da meist einen höheren Stellenwert als friedliche. Ein beeindruckendes Beispiel aus jüngster Zeit ist das Interfaith Mediation Center in Nordnigeria. Der Imam Mohammed Ashafa und der Pastor James Wuye haben es in Kaduna gegründet wurde. Das interreligiöse Zentrum organisiert in dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Land Workshops zur friedlichen Konfliktbearbeitung und hat ein Netzwerk von Friedensaktivisten aufgebaut. Außerdem engagiert es sich beim Wiederaufbau zerstörter Kirchen und zerstörter Moscheen und setzt sich für die lokale Versöhnung zwischen Christen und Muslimen nach gewalttätigen Ausschreitungen ein. Es gibt einen Film, der diese Friedensarbeit eindrücklich dokumentiert: „The Pastor and the Imam“.

Solche Beispiele zeigen: Wenn der Friede Gottes ihre Lebensweise bestimmt, können mutige und aufmerksame Gläubige in den Konflikten ihrer Zeit zu Friedensstiftern werden und ihre Vermittlungsdienste anbieten. So bleibt zu hoffen, dass zum Fest der Geburt Christi diese Friedenskräfte wieder gestärkt werden – hierzulande und weltweit.

Sendungen von Pfarrer Hans-Jürgen Benedict