Am Sonntagmorgen
Ist Gott online?
Gottesdienst im Internet
19.06.2016 08:35

„Handys bitte einschalten! „ – „ Laptops bitte aufklappen!“ – ungewöhnlich in einer Kirche. Im Twittergottesdienst allerdings, da braucht man ein Smartphone, Tablet oder Laptop. So wie an diesem Samstagabend in Essen.

 

Ralf Peter Reimann: „ Wie jeden Gottesdienst, so feiern wir auch diesen Gottesdienst im Namen des Dreieinigen Gottes, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Wir hier in Essen, ihr, die ihr dem Gottesdienst über Twitter folgt und alle die im Fernsehen zusehen und dann über Internet uns ihre Nachrichten zukommen lassen, wir alle feiern diesen Gottesdienst gemeinsam.“

 

Ralf Peter Reimann, Pastor der Evangelischen Kirche im Rheinland, begrüßt einen Teil der Gemeinde face to face, andere Mitfeiernde sind übers Internet zugeschaltet. Sie sitzen an ihren Laptops, haben den Livestream auf Bibel-TV und den Kurzblog-Dienst Twitter geöffnet. So hören und sehen sie, was in Essen passiert und lesen Tweets auf ihrem Bildschirm: Text-Teile aus dem Gottesdienst und Kommentare der anderen. Aus den Tweets entsteht eine Twitterwall, die in Essen an eine Leinwand projiziert wird.

 

Carmen Splitt hat sich aus ihrem Wohnzimmer in Rotenburg an der Wümme zugeschaltet, es ist ihr erster Online-Gottesdienst. Sie kann auf dem Bildschirm sehen, wer noch daran teilnimmt. Die meisten haben im Twitter-Profil ihre echten Namen angegeben, manche auch ein kleines Foto.

 

Doch etwas fehlt. Carmen Splitt kann den anderen Twitterern nicht in die Augen sehen, weiß nicht, ob sie gerade froh oder traurig, angespannt oder locker sind. Nonverbale Signale wie der Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung können am Computer nicht vermittelt werden.

 

Carmen Splitt: „ Bei 'nem Präsenzgottesdienst merke ich: Links, rechts, da bewegt sich jemand, da ist jemand wärmer oder kälter, hat Abstand oder ist ganz nah – das war natürlich nicht. Aber ich hab mich auf 'ner anderen Weise den anderen Teilnehmern nahe gefühlt. Ich hatte das Gefühl, ein bisschen, ein ganz klein wenig, von den Gedanken teilnehmen zu können. Du bist zwar nicht neben dieser Person – körperlich – aber geistig.“

 

Auch über große Entfernungen und mit Kabeln und Bildschirmen dazwischen können sich Menschen einander nahe fühlen. Medienpsychologen sprechen von „ Sozialer Präsenz“ . Sie entsteht dadurch, dass man einander wahrnimmt. Jemand setzt seinen Tweet ab und erhält eine Antwort – so kommen mehrere miteinander ins Gespräch. Sie sind da. Wirklich?

 

Die Kommunikation im Internet wird oft als „ virtuell“ bezeichnet – im Sinne von: „ nicht wirklich, nur fiktional“ . Doch „ virtuell“ heißt nicht „ irreal“ . „ Virtuell“ heißt auch, dass etwas möglich oder vorstellbar ist. In diesem Sinne ist Virtualität nichts, was erst durch das Internet erfunden worden wäre. Man ist im Bereich des Virtuellen, sobald man in Gedanken zurück oder voraus blickt; wenn man ein Buch liest, einen Traum träumt oder sich die Zukunft ausmalt.

 

Und auch, wenn man an Gott glaubt, den Unsichtbaren. Obwohl er scheinbar nicht anwesend ist, erfahren Menschen Gottes Wirken. So verstanden leben Christen immer virtuell: indem sie sich im Glauben für Gottes Möglichkeiten öffnen.

 

 

Seit biblischen Zeiten wird Gottes Wort durch Medien weitergegeben: Auf steinernen Tafeln, in Geschichten und Gleichnissen, durch Brot und Wein. Verfolgt man die Entwicklung von den Paulusbriefen bis zum Internet, so besteht kein Anlass, ausgerechnet das Web 2.0 von der Evangeliumsverkündigung auszunehmen. Es ist eine Erweiterung der Möglichkeiten: Weltweit kann jeder mit jedem kommunizieren.

 

Für Nutzer Sozialer Netzwerke ist das Internet keine Parallelwelt, sondern alltägliches Kommunikationsmittel. Häufig kennt man die anderen auf Twitter und Facebook: Es sind Kolleginnen, Mitschüler, Verwandte oder eben Glaubensgeschwister.

 

In einem Online-Gottesdienst kann es allerdings auch ein Vorteil sein, wenn sich nicht alle kennen. Einigen fällt das Mitteilen der eigenen Gedanken gerade dann leichter, wenn der Kontakt anonym und unverbindlich bleibt. So trauen sich manche gerade im Online-Gottesdienst, ihre Fragen zu stellen. Persönliche Fragen – und auch kritische zum Thema Internet-Gemeinde.

 

Ralf Peter Reimann und Yvonne Kälbli: „ Wir hier haben miteinander gebetet und haben manchmal auch auf die Twitterwall gesehen, Yvonne, aber wir konnten ja nicht alles zeigen. Ich hab sozusagen die Bitte an dich, dass du uns auch nochmals sagst, was auf Twitter uns Menschen sagen, uns mitteilen wollen, in diesen Gottesdienst hineinposten.

Also zum Beispiel der stud.theol. schreibt: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Auch im Internet, Fragezeichen?“

 

Da hat Mitarbeiterin Yvonne Kälbli eine gute Frage rausgefischt – die von einem Theologiestudenten. Er zitiert ein Jesuswort aus dem Matthäus-Evangelium: „ Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Versammelt? Stimmt der Begriff, wenn einige nur am Bildschirm anwesend sind?

 

In der Confessio Augustana, der grundlegenden Bekenntnisschrift der lutherischen Reformation von fünfzehn-hundert-dreißig, steht in Artikel sieben über die Kirche:

 

Sie ist die „ Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden.“

 

Die Versammlung der Gläubigen – das ist die Gottesdienstgemeinde.

 

Ralf Peter Reimann: „ Egal wie ihr teilnehmt, über Twitter, über Facebook, über E-Mail, eure Gedanken und eure Gebete, die wir hier im Gottesdienst teilen, machen uns zu einer Gemeinde.“

 

Ralf Peter Reimann ist überzeugt: Auch im Internet kann es eine Versammlung geben. Denn es kommt nicht auf das physische Zusammensein an, sondern auf die Kommunikation zwischen Menschen und Gott.

 

Das hat schon Martin Luther so gesehen. In seiner programmatischen Torgauer Predigt Fünfzehn-hundert-vier-und-vierzig sagte der Reformator, in der Kirche solle nichts anderes geschehen,

„als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang.“

 

Miteinander reden. Das war, so der Theologe Michael Meyer-Blanck, eine Kulturrevolution:

„Die Kommunikation in Sachen Religion vollzieht sich nicht mehr rituell, sondern diskursiv. Religion ist nicht da, wo geheimnisvolle Rituale und Formeln ihren Platz haben, sondern da, wo man sich verständigt.“

 

Im Gottesdienstbuch der lutherischen und unierten Kirchen in Deutschland heißt es:

„Der Gottesdienst wird unter Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert.“

 

Nach dem Verständnis der reformierten Kirche ist die Gemeinde die „ erste Liturgin“ und „ Gottesdienst ist Handeln der Gemeinde vor Gott.“ Im Twittergottesdienst war das genau so, sagt Carmen Splitt.

 

Carmen Splitt: „…es hatte mehr als ein normaler Präsenzgottesdienst. Also es war wirklich ein aktiver Gottesdienst, ein Hin und Her, wirklich ein Miteinander. Und nicht so dieses: Man kriegt es vorgesetzt – friss oder stirb. Sondern wirklich ein Miteinander, ein Geben und Nehmen.“

 

 

In dem Twittergottesdienst in Essen ruft Pastor Ralf Peter Reimann mehrmals zum Mitmachen auf. Das Thema lautet: „ Flüchtlinge“. Die Twitterwall füllt sich schnell mit Geschichten über Flucht und Ankunft in einem fremden Land.

 

Yvonne Kälbli: „Einer schreibt: Meine Großmutter musste ebenfalls fliehen und kam erst so ins Ruhrgebiet. Mein Schwiegervater stammt aus dem Sudetenland, mit 16 wurde er vertrieben, er hat zeitlebens darunter gelitten. Dann ein anderer Beitrag: Ich hab in Australien viele Menschen kennengelernt, die aus Deutschland vor dem Kalten Krieg dorthin geflogen sind. Großeltern flohen aus Breslau und Prag, sie waren anfangs in der neuen Heimat auch nicht willkommen.“

 

Die Tweets zeigten: „ Flucht und Vertreibung“ betrifft die Mitfeiernden ganz persönlich. Aus den Erfahrungen und Gebeten entsteht eine Art gemeinsame Predigt – Wort und Antwort. Wohl ganz in Luthers Sinne.

 

 

Doch eine Sache fehlt in Onlinegottesdiensten: Das Abendmahl, das symbolische Teilen von Brot und Wein. Laut der Confessio Augustana soll Gottes Wort in der Versammlung durch Predigt und Sakramente – hörbar und erfahrbar – vermittelt werden. Doch ein Abendmahl im Internet können sich die meisten Onlinegottesdienst-Pioniere nicht vorstellen – aus gutem Grund.

 

Das Abendmahl ist eine symbolische Handlung. Zu den Realsymbolen gehören Brot und Wein, aber auch die versammelte Gemeinde selbst – und darauf kommt es an: Die Menschen essen und trinken gemeinsam. Das geht nicht durch Kabel und WLAN, dafür müssen sie körperlich beisammen sein. Ein zweites Argument gegen ein Online-Abendmahl: Mit Brot und Wein wird jedem Einzelnen gesagt „ für dich gegeben“ , „ für dich vergossen“ . Dieser persönliche Zuspruch ist über Mikrophon und Kamera nicht möglich, weil der Pastor die Menschen nicht anschauen kann.

 

Man kann also darüber streiten, ob es im Internet eine richtige Gemeinde geben kann – eine Gemeinde ohne Sakramente. Bei der Synodentagung der evangelischen Kirche in Deutschland im November zweitausend-vierzehn ist man zu diesem Schluss gekommen:

 

„Die Evangelische Kirche muss sich verändern und weiten, damit Gemeinschaft auch in virtuellen Räumen gelebt werden kann. Die Digitalisierung der Gesellschaft führt dazu, dass durch digitale Räume neue Formen von Gemeinde entstehen. Nicht physische Nähe, sondern Kommunikation ist für sie wesentlich. Die evangelische Kirche respektiert und fördert diese neuen Gestalten von Gemeinde.“

 

 

Die Reformation dauert an, Kirche verändert sich. Sie geht dorthin, wo die Menschen sich jeden Tag aufhalten – ins Internet. Muss man sich deshalb sorgen, dass Gottesdienste in Zukunft nur noch online stattfinden und sonntagsmorgens niemand mehr in die Kirche kommt?

 

Twittergottesdienste wie der in Essen werden Präsenzgottesdienste nicht verdrängen. Denn die meisten Christen suchen den persönlichen Kontakt und das sinnliche Erleben. Gottesdienste im Internet sind keine Bedrohung für die Kirche, sondern eine Ergänzung. Für Studenten, die umgezogen sind und am neuen Ort noch keine Gemeinde haben. Für Berufstätige, die auch auf Dienstreisen Gottesdienst feiern wollen. Oder für Menschen wie Carmen Splitt, die jeden Tag Soziale Netzwerke nutzen und gern Neues ausprobieren.

 

Carmen Splitt: „Ich denke, es war 'ne Gemeinde auf Zeit, weil das Ganze dann auch wieder auseinander läuft. Und in dem Fall: Ich hab mich diesen Leuten, die an diesem Twittergottesdienst mit mir teilgenommen haben, zugehörig gefühlt.“

 

Für Carmen Splitt ist klar: Glauben und Gemeinschaft erlebt sie auch im Internet. In Ralf Peter Reimanns Schlussgebet konnte sie zuhause an ihrem Laptop jedenfalls gut einstimmen.

 

Ralf Peter Reimann: „Das, was ihr in der Stille vor Gott gebracht habt, das, was ihr getwittert habt, wollen wir einschließen in das Gebet, das Jesus uns gelehrt. Ihr könnt, wenn ihr online seid, auch die einzelnen Bitten des Vaterunsers tweeten, so dass sie dann auch bei uns hier mit stehen. Ob ihr nun twittert oder ob ihr es laut aussprecht oder nur still betet, gemeinsam beten wir: Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, … in Ewigkeit, Amen.“

 

 

 

 

 

 

 

 

Quellen:

Bukowski, Peter, Reformierte Liturgie. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, Wuppertal/Neukirchen-Vluyn 1999.

Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Kundgebung: Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft, Dresden 2014, online verfügbar unter https://www.ekd.de/synode2014/schwerpunktthema/beschluss_kundgebung.html, zuletzt geprüft am 11.04.2016.

Gaßmann, Günther (Hg.), Das Augsburger Bekenntnis Deutsch. 1530-1980, Göttingen, 6. Auflage 1988.

(Haese, Bernd-Michael, Hinter den Spiegeln. Kirche im virtuellen Zeitalter des Internet, Stuttgart 2006. )

Meyer-Blanck, Michael: Liturgie und Liturgik. Der Evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Göttingen, 2. Auflage 2009.

(Nord, Ilona, Experiment with freedom every day. Regarding the virtual dimension of Homiletics, in: HMLTC 36, 2011, 32–38, online verfügbar unter http://www.homiletic.net/index.php/homiletic/article/view/3461, zuletzt geprüft am 11.04.2016.)

Reimann, Ralf Peter: Nachlese #Twigo Twittergottesdienst, online verfügbar unter https://theonet.de/2015/11/20/nachlese-twigo-twittergottesdienst/, zuletzt geprüft am 11.04.2016.

Vereinte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (Hg.): Evangelisches Gottesdienstbuch, Berlin/Bielefeld/Hannover, 5. Auflage 2012.