Claudia und Thomas Thiel
Wieso? Awaa!
Schwäbisch-Allemanische Fasnet
02.03.2025 08:35

Sie ist ganz anders als der Karneval am Rhein: die alemannische Fasnet. Mit Holzmasken und Narrensprung ziehen die Verkleideten durch die Straßen. Hinter den Masken verbirgt sich viel Sinn.  


Sendetext nachlesen:

Haidgau, im Dialekt der Einheimischen "Hoiga". Oberschwaben. Rund 1100 Einwohner. Ein kleines Dorf zwischen Ulm und Bodensee, ruhig, friedlich, in der Ferne sind die Alpen erkennbar. Jedes Jahr am 6. Januar bleibt die Zeit stehen und der Zunftmeister, der Vorsitzende der örtlichen Narrenzunft, hält eine Rede.

Wieder ist es Fasnetszeit.
Am sechsten Tag im Januar
da fängt unsere allemanische Fasnet so richtig an.
Überall hört man: "jetzt geht es weiter",
deshalb wollen wir ab heute unser Brauchtum in Haidgau pflegen.

Die Fasnet beginnt und hält tapfer durch, bis sie dann am Abend des Fasnetsdienstag mit lautem Wehklagen wieder begraben wird. Dann ruht sie sanft, aber alle wissen: sie wird wiederkommen, nächstes Jahr, wieder am nächsten 6. Januar.

Wir wollen der Schwäbisch-Alemannischen Fasnet auf die Spur kommen. Wollen hinter die Masken schauen, die die Narren tragen. Wollen sie begleiten, wenn sie beim "Narrensprung", dem Umzug durch die Gassen, unterwegs sind. Gesprungen wird viel in der Fasnet, nicht nur weil es im Januar und Februar oft eisigkalt ist in Oberschwaben, sondern weil die Narren bei ihrem Treiben auf den Straßen springend und hüpfend unterwegs sind, begleitet von Schalmeien, Trommeln und Trompe-ten.

Woher kommt dieses Brauchtum, das wie aus der Zeit gefallen scheint. Das so ganz anders daher-kommt, als der rheinische Karneval. Und: Was hat das alles mit dem Christentum, dem christlichen Glauben zu tun? Sind es gar heidnische Bräuche? Wir fragen aber auch: Was für eine Zukunft hat die Fasnet in einer Zeit, die vor lauter Verrücktheiten aus den Fugen zu geraten scheint?

Wir fragen nach. Einer, der Auskunft geben kann ist, Daniel Wassner, seit 20 Jahren Zunftmeister der Haidgauer Narrenzunft Chadaloh: Welche Bedeutung hat die Fasnet für ein Dorf wie Haidgau:

 "In Hoiga isch die Fasnet schon lange Bestandteil im Ortsgeschehen. Seit der Gründung von der Narrenzunft Chadaloh Haidgau im Jahr 1975 isch die Fasnet stetig gewachsa und hat sich in die Herzen der Haidgauer Bürger eingeschlicha. Mit dem Narrensprung feiern mir natürlich au die größte Veranstaltung, die im Ort jedes Jahr wiederkommt."


Das närrische Treiben in Haidgau bzw. Hoiga ist natürlich viele hundert Jahre älter, aber organisiert hat sich die Fastnet hier erst 1975. Und organisiert ist das jährlich ein beeindruckendes Spektakel. Beim diesjährigen Jubiläumssprung waren annähernd 4000 Tausend Hästräger, also verkleidete Närrinnen und Narren sowie Musikanten dabei – wie erwähnt bei etwa 1100 Einwohnern. Wie viele Menschen die Gassen gesäumt haben, ließ sich gar nicht mehr zählen.
Für alle, die an ihr aktiv beteiligt sind, hat die Fasnet eine andere, ganz persönliche Bedeutung – Daniel Wassner:

"des isch gleich erklärt: Hoiger Fasnet isch für mich oifach wie a Küssle vom Glück"

Schöner kann man es wohl kaum sagen: Ein Kuss vom Glück. Hier geht es um etwas Bodenständiges, das für ein Dorf, eine Stadt, eine Region von allergrößter Bedeutung ist. Und natürlich haben die Haidgauer Narren auch eine eigene Musik, die für sie komponiert wurde:

Haidgau. Anno Domini 805. Ein gewisser alemannischer Graf Chadaloh schenkte seine Anteile am Dorf an das Kloster St. Gallen. Sicher ist sicher, denkt er sich, für das ewige Seelenheil kann man nicht früh genug Sorge tragen. Denn dieser Chadaloh muss ein ziemlich rauer Geselle gewesen sein. Klagen über seine Grausamkeiten werden laut. Ein paar Jahre später stirbt er während eines Feldzugs – nur gut, dass er vorgesorgt hatte. 
Im Lauf der Jahrhunderte, keiner weiß, wann genau, wurde auch die Fasnet ein fester Bestandteil des dörflichen Jahresablaufs. Im 19. Jahrhundert gab es dann Probleme, die so weit führten, dass die Verkleidungen an der Fasnet verboten werden sollten. Jedenfalls findet sich ein merkwürdiger Satz in der Ortschronik:

 "(Es) sind bei gleichmäßiger Wegschaffung verboten alle ekelhaften und gräußlichen Vermummungen und Larven."

Larven sind die Holzmasken, die in der schwäbisch-alemannischen Fasnet vor dem Gesicht getragen werden. Eine mündliche Überlieferung aus dieser Zeit berichtet zudem von "heftigsten Hautausschlägen", die man sich durch Pelz- und Fellverkleidungen zugezogen habe. Die Fasnet aber ließ sich nicht unterkriegen, die Haidgauer feierten weiter. Vereinsmäßig organisiert mit einer zünfti-gen Ordnung haben die Haidgauer die Fasnet erst 1975. Und natürlich trägt die Haidgauer Narren-zunft den Namen des Ortsgründers, "Chadaloh". Und die verschiedenen Maskentypen bekommen historische Namen aus der Familie von Chadaloh: Hugibold, Pebo und Wago. Außerdem wird jedes "Häs", also jedes Narrengewand, individuell bemalt. 

Die Haidgauer sind nicht närrischer und verrückter als die anderen Alemannen und Oberschwaben – oder vielleicht doch? Wie auch immer: Jedes Dorf, jede Stadt hat seine, ihre eigene Fasnetstradition, ein besonderes "Häs", ein eigenes Lied, einen speziellen Narrenruf.

Wo kommt die schwäbisch-alemannische Fasnet her? "Fas-Net" ist die Nacht vor der vorösterlichen Fastenzeit. Wobei die "Nacht" dehnbar ist, es sind schon ein paar Wochen, in denen die Narren durch die Gassen springen.

In der Fastenzeit darf man kein Fleisch essen. Schlachtreife Tiere, z.B. Schweine müssen vorher geschlachtet werden. Und am besten isst man das Schwein dann gemeinsam auf. Damit das Ganze auch so richtig schmeckt, gehört reichlich Bier dazu. Und die "Fasnetsküchle" oder "Krapfen", die werden in dem vielen Schmalz gebacken, das dabei anfällt. Die Fasnet ist ein sinnlicher Genuss in jeder Hinsicht. Denn wenn im Oktober und November viele Kinder geboren werden, freut sich je-der Narr und jede Närrin über den "Narrensamen" – so heißt der närrische Nachwuchs tatsächlich.

Die Fasnet im schwäbisch-alemannischen Raum hatte in den letzten 300 Jahren eine bewegte und sehr wechselvolle Geschichte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts standen die närrischen Traditionen sogar kurz vor dem Aus, Verbote seitens der Regierenden wurden verhängt.
Doch dann ging es aufwärts. Die Romantik entdeckte das Volkstümliche. 

Und die Renaissance der Fasnet war nicht mehr aufzuhalten, wurde nur durch die Kriege des 20. Jahrhunderts unterbrochen. Selbst gegen den Nationalsozialismus konnte sich die Fasnet lange behaupten. Das Fasnettreiben brach erst durch den Zweiten Weltkrieg ab. 

Was jedoch gelegentlich bis heute aus dieser dunklen Zeit nachwirkt, sind noch immer kursierende Meinungen, der Fasnet würden heidnische, vorchristliche Bräuche und Traditionen zu Grunde liegen. Die Brauchtumsforschung hat jedoch längst nachgewiesen, dass die Fasnet nur im Zusammen-hang mit dem Kirchenjahr verstanden werden kann.

Wir müssen also noch einmal genauer nachfragen: Wo kommen die Narren und Teufel denn nun her, die da im Januar und Februar lärmend durch die Straßen springen – und Jahr für Jahr von zig-tausenden Menschen bestaunt, belächelt – oder gefürchtet werden.

Also:
Vergiss die Trübsal und sei nicht traurig,
die Fasnet ist wieder da,
Macht euch auf den Weg in alle Gassen und Ecken,
denn die Haidgauer Narren müssen sich nicht mehr verstecken.
Ihr Haidgauer Straßenmusikanten, seid ihr bereit,
spielt für uns zur Heiterkeit – oder auf Schwäbisch:

"Vergiss des Triabsal und häng dr Lätsch it na,
dia Fasnet isch fei wieder da .
Machet Eich auf dr Weag in alle Gassa und Ecka,
denn dia Hoiger Weißnarra brauchet sich nemme länger verstecka.
Ihr Hoigamer Stroßa-Huper send ihr bereit, 
spielet für uns zur Heiterkeit."
Die Fasnet versteht man nur durch die vorösterliche Fastenzeit. Diese wiederum aber nur von Ostern her. Man muss also rückwärts denken: Zuerst der Osterjubel über die Auferstehung Jesu Christi, davor wird gefastet und davor findet die Fasnet statt.

Gerade diese Zusammenhänge sind zunehmend unbekannt, und so verdunkelt sich der  eigentliche Sinngehalt der Fasnet. Wenn aus Fasten Diät, das Fasten also zum Selbstzweck wird, verliert sowohl die Fasnet ihre Herkunft als auch das Osterfest seine Herrlichkeit.

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich drei zentrale Fasnetsfiguren herausgeschält und in Masken-formen verleiblicht: Narr, Teufel und Tod.

Die erste ist mit Abstand die wichtigste und schillert mehrdimensional: Jede Narrenzunft hat ihre eigenen Traditionen, die Unterschiede groß. Was die Weiß- und Schwarznarren und wie sie auch immer heißen mögen aber eint: Vom Ursprung her sind sie ein gottloses Volk. Im Psalm 53 heißt es doch:

Die Toren – die Narren – sprechen in ihrem Herzen:
"Es ist kein Gott."
Sie taugen nichts, ihr Treiben ist ein Gräuel;
da ist keiner, der Gutes tut." 

Von den Autoren der Psalmen bis weit in die Neuzeit galt: Die größte Torheit ist, Gott zu leugnen. Eine schlimmere Narretei war nicht denkbar. Praktisch tritt später der "Narrenspiegel" als typisches Zeichen hinzu: ein Spiegel, an einer langen Stange, die der Narr vor sich herträgt und hinein-schaut. In einer solchen Selbstbespiegelung ist der Narr der klassische Narziss, der Gott und seinen Nächsten völlig aus den Augen verliert. Der Spiegelnarr wird damit zum exemplarischen Menschen und hält den Zuschauerinnen und Zuschauern quasi den Spiegel vor: Wer bist du wirklich? 

Und wenn den Zuschauenden beim Narrensprung der Maskenträger erschreckend nah auf den Leib rückt, hat das Erschrecken auch die Tiefendimension: Wer ist denn hier der Narr, die Närrin? Der Maskierte oder gar ich selbst? 

Im Neuen Testament schreibt der Apostel Paulus über die Narrheit noch einmal ganz anders. Paulus macht sich um Christi willen selbst zum Narren und stellt die Weltwertigkeiten auf den Kopf:

Niemand halte mich für töricht; wenn aber doch, so nehmt mich an als einen Toren, damit ich mich auch ein wenig rühme. (2. Korinther 11,16)

Die beiden anderen Prototypen der Fasnet, Teufel und Tod, spielen sich mit verschiedenen Adaptionen immer wieder in den Vordergrund. Tiermasken korrespondieren mit verschiedenen teuflischen Attributen, gehörnte Böcke oder Affen stellen ein reichhaltiges Repertoire zur Verfügung. Dass Narretei dem Höllenfürsten in die Hände spielt, ist offensichtlich. 

Und um vor dem ewigen Höllenfeuer gewarnt zu sein, kann ein bocksfüßiger Gesell mit herausgestreckter Zunge schon hilfreich sein.

Subtiler dagegen kommen die sogenannten "schönen Larven" und Glattmasken in ihrer leicht lächelnden, geschlechtslosen Faltenfreiheit daher: Verbirgt sich doch gerade hinter ihnen der tiefste Abgrund. Der schöne Schein täuscht und verführt – bis er entlarvt wird. Die Masken bringen damit das Vorder- und Hintergründige des Menschseins in einen Dialog: Wer bist du wirklich, hinter deiner Maske?

Es ist also eine offene Frage: Welche Funktion hat die Fasnet, welche kann sie haben? Der Philosoph Charles Taylor spricht von einer "Antistruktur" des Karnevals und sieht in ihr eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Wo Überregulierungen, Vorschriftenfluten und Normierungen in allen Le-bensbereichen exorbitant zugenommen haben, braucht es ein Ventil. 

Aber nicht nur: Unabhängig von jeder Konfession und Religion stellt der maskierte Narr die Frage nach Tiefenschichten menschlicher Existenz. Er provoziert, heiter, aber nicht harmlos. Vielleicht hat sich Paulus in seiner Narrenrolle ähnlich gesehen: Als Narr in Christo stellt er die Frage, auf welche Werte es tatsächlich ankommt. Was ist wirklich klug, was muss töricht genannt werden? Eine Frage, die an Aktualität in 2000 Jahren nichts verloren hat und das närrische Treiben auf den Straßen noch einmal anders in den Blick nimmt.

Die schwäbisch-alemannische Fasnet ist 2014 in den Rang eines "Immateriellen Kulturerbes" erhoben worden. Sie hat eine jahrhundertelange Traditionsgeschichte – aber wo geht die Reise hin? Insbesondere, wenn die begründenden christlichen Wurzeln in Vergessenheit geraten sollten?

Die Narrenzunft Chadaloh in Haidgau hat keine Nachwuchsprobleme. Jedes Jahr werden am 6. Januar neue, zumeist junge Mitglieder aufgenommen. Dabei geht es um Zusammenhalt, Engagement, die Verbindung der Generationen – gelebte Werte. Und freilich: Um viel Spaß und Narreteien. Aber eine Narrenzunft ist viel mehr als im Januar und Februar jedes Wochenende zwei oder dreimal zum "Springen" zu gehen. Die Zünfte halten untereinander engen Kontakt, sind in verschiedenen "Narrenringen" engagiert. Es geht dabei um Verbindlichkeit, wie sich eine Gesellschaft oder Gemeinschaft organisiert.

Mancher Protestant mag sich bis heute mit der Fasnet, dem Fasching oder Karneval schwertun. Martin Luther hatte vor 500 Jahren dafür gesorgt, dass das damals meist recht derbe Treiben dort, wo der Protestantismus die Herrschaft übernahm, schnell beendet wurde – und das blieb dann jahrhundertelang so. Wer mit dem Fasten nichts anfangen kann, braucht auch keine Fasnet, das war nur konsequent. 

Heute ist die Perspektive eine andere: Längst ist das Fasten auch in die evangelischen Kirche zu-rückgekehrt. Die evangelische Fastenaktion "Sieben Wochen ohne" hat schon Tradition. Und dem Fasten darf ein fröhliches und manchmal auch provozierendes Feiern vorausgehen. Die Narren leiten das Fasten quasi ein und fragen: Wer bist du, Mensch? Warum fastest du eigentlich?


Doch die Zünfte haben heute auch noch mit ganz anderen, weltlichen Problemen zu kämpfen, er-läutert Daniel Wassner:

 "… des isch wie überall. D’r Bürogratismus hat überhand gnomma, wobei die großen Narrenverbände meines Wissens nach schon in Verhandlungen mit der Politik sind und auch schon gute Ergebnisse erzielt hond. Auch die stark gestiegene Buspreise und fehlende Busfahrer erschweret de Narrenzünfte die gegenseitige Besuche."

Sicher ist ein Narrensprung oder ein Zunftball nicht jedermanns und jederfraus Sache. Manche fliehen sogar so weit wie möglich, wenn die Narren wieder los sind. Doch wer bleibt, kann die Botschaft der Narren vielleicht neu hören: Es geht nicht darum, das bunte und verrückte Treiben theoretisch zu überhöhen. Aber wenn man begreift, dass die gesellschaftlichen Regeln ins Uferlose gewachsen sind, ist die Fasnet vielleicht die richtige Antwort auf die Frage "Wie kann man dem Verrückten genug Raum geben, damit nicht die Verrückten an die Macht kommen?"

Und Christenmenschen dürfen gern ihre närrischen paulinischen Wurzeln wiederentdecken und mit den schwäbischen und alemannischen – und anderen Narren – den Mächtigen den Narrenspiegel vorhalten. Dann gibt es nicht nur bei der Haidgauer Fasnet "a Küssle vom Glück".
 

Es gilt das gesprochene Wort.


Musik dieser Sendung:
1. Vom Narrensprung 2024
2. Haidgauer Narrenlied 
3. Wasi Kuh 1
4. Schalmeien Haidgau
5. Helmuth Brandenburg, Pop to the past