(Musikakzent: R. Mey & friends, Nein, meine Söhne geb ich nicht)
Thomas Thiel: Ich höre dieses Lied von Reinhard Mey und erinnere mich…
Geboren 1963, bin ich von der Friedensbewegung der 80er Jahre tief geprägt. Die nächtelangen Diskussionen, die "großen" Aktionen … die Demonstration im Bonner Hofgarten im Oktober 1983 ist mir bis heute gegenwärtig. "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein" war die Botschaft der ersten Vollversammlung des Weltkirchenrates 1948: Das alles war mir Grund genug, den Kriegsdienst zu verweigern und "Zivi" zu werden. Es war so einfach für mich: Die Guten lehnen die Waffen ab, die Bösen sind die in Uniform, die auf der anderen Seite. Meine beiden Großväter waren Soldaten an der Ostfront, einer gefallen, einer vermisst. Es war für mich undenkbar, eine Uniform zu tragen.
Claudia Thiel: So ähnlich habe ich damals auch gedacht. Als Frau war ich in den 80er Jahren ja nicht vor die Wahl gestellt: Dienen oder verweigern. Aber wo die Guten waren, das war auch mir klar. Und dennoch führte mich mein Berufsweg über die Polizeiseelsorge schließlich in die Militärseelsorge. Als Pfarrerin war ich im Einsatz in Afghanistan, war vier Monate in Mazar-e Sharif. Ich habe dort erlebt, wie nur ein paar hundert Meter von der Kapelle entfernt eine Rakete eingeschlagen ist.
Damals, 2015, dachten wir dort im Einsatz: Wir helfen der afghanischen Bevölkerung, damit sie ein besseres, freies Leben führen kann. Wir wissen doch, was für sie gut ist: Demokratie und Toleranz. Wie blind wir waren: Als die Taliban 2021 das Land zurückeroberten, stießen sie auf fast keinen Widerstand. So, als wüsste niemand, was er verteidigen sollte.
Thomas Thiel: Eine Waffe trage ich bis heute nicht. Aber meine klare Haltung aus den 80er Jahren ist differenzierter geworden. Heute bin ich evangelischer Militärpfarrer. Und frage mich, wie ich in diesen friedensethisch und kriegspolitisch aufgeregten Zeiten einen klaren Kopf bewahren kann. Die scheinbar klaren Fronten, das Aufteilen in Gut und Böse, Freund und Feind sind mir suspekt. So einfach, wie ich die Welt gerne hätte, ist sie nicht. Das ist durch den Krieg in der Ukraine nur noch deutlicher geworden. Die trügerische Ruhe ist damit vorbei. Der "Sound of silence" ist zu einem "Sound of war" geworden.
(Musikakzent: Disturbed, Sound of silence)
Claudia Thiel: Bei Simon and Garfunkel, klang Sound of Silence, sehr eingängig, fast brav. Die Gruppe Disturbed hat das Lied noch einmal ganz anders interpretiert. Wenn in dem Liedtext von Prophetenworten die Rede ist, die auf den Wänden der U-Bahn und der Mietskasernen geschrieben sind, so sind daraus heute Bilder und Worte von tatsächlicher Gewalt, von Zerstörung, Tod und Sterben geworden. Das hält die westliche Welt seit Monaten in Atem. Die Gewalt, die wir sehen, hat die Friedensphantasien zerschlagen und dröhnt in unseren Ohren.
Thomas Thiel: Dabei war die Gewalt immer da, mit all ihren Facetten. Auf keiner Seite kann sie richtig sein: Ich erinnere mich an den Kirchentag in Berlin, 2017, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Wir hatten als Militärseelsorge einen Gottesdienst begonnen, die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sollte einen Predigtteil übernehmen. Nach dem ersten Lied seilten sich selbsternannte Friedensaktivisten von der Empore ab und begannen zu schreien. Niemand griff ein. Der Gottesdienst war eine Stunde unterbrochen. Bis heute verstört mich das Erlebte: Frieden lässt sich nicht mit Gewalt erreichen. Wie – darüber kann und muss man streiten.
Claudia Thiel: Sicher ist der 24. Februar diesen Jahres mit dem Angriff auf die Ukraine eine Zäsur. Viele erkennen: Friedensethik muss neu gedacht werden. Auch wenn vieles Stückwerk bleibt.
Erstaunlich scheint mir zunächst die Wahrnehmung: Viele Ukrainer wehren sich vehement. Sie wissen offenbar, wofür es sich zu kämpfen - oder sogar zu sterben - lohnt. Sie nehmen das Recht auf Verteidigung wahr. Das ist nicht selbstverständlich.
In einem nicht unumstrittenen Abschnitt aus den lutherischen Bekenntnisschriften, in der "Confessio Augustana", heißt es:
"daß Christen ohne Sünde ... Übeltäter mit dem Schwert bestrafen, [und] rechtmäßig Kriege führen [dürfen]".
Thomas Thiel: Die Feststellung der Reformatoren zeigt an: Als "ultima ratio", als letztes Mittel dürfen Christen Gewalt als Gegengewalt einsetzen. Aber nicht beliebig, wie die Bekenntnisschrift weiter ausführt:
"Wenn aber der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht befolgt werden kann, soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen."
Claudia Thiel: Diese alten Texte helfen mir dabei, meine Gedanken zu ordnen. Und doch beschäftigt mich in den letzten Monaten eines ganz besonders: Wie kann ich mir eine eigene, verantwortliche Meinung als Christin bilden, wenn ich Bilder aus dem Krieg sehe, wenn ich Politiker von Waffenlieferungen reden höre und ich gleichzeitig in der Bibel Jesu Worte zur Feindesliebe lese.
Thomas Thiel: In den letzten Wochen hat mich ein Wort Dietrich Bonhoeffers begleitet. Er hat es 1934 bei einer ökumenischen Konferenz auf der dänischen Insel Fanö in die Welt gerufen:
"Wie wird Friede? Wer ruft zum Frieden, daß die Welt es hört, zu hören gezwungen ist? Daß alle Völker darüber froh werden müssen? Der einzelne Christ kann das nicht – er kann wohl, wo alle schweigen, die Stimme erheben ... Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, daß die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und daß die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt."
Thomas Thiel: Ein starkes Wort. Für mich ein lautes, deutliches Wort: Wo ich kann, soll, ja: MUSS ich die Stimme erheben. Für den Frieden. Aber da gibt es noch etwas größeres: Das Wort, das die Kirche Christi hinausschreien muss in diese nach Frieden dürstende Welt. Das ist eine gemeinsame Aufgabe. Und mehr, als sich über die Lieferung von "schweren Waffen" in die Ukraine zu entzweien.
Claudia Thiel: Mich hat ein anderes Wort begleitet, von Martin Luther King:
"Wer zum Bösen schweigt ist ebenso schuldig, wie der, der es tut!"
Claudia Thiel: Also, wie Bonhoeffer meinte: "Dem Rad in die Speichen fallen". Das ist gefährlich, dabei kann man selbst unter die Räder kommen. Und schuldig werden. Aber ich brauche solche starken Worte, nicht die weichgespülten, denen alle zustimmen können, die sich vom Sofa oder vor laufenden Kameras so gut anhören.
Zu diesen starken Worten gehört aber immer die Frage: Wer sagt mir, was böse ist? Wem kann ich vertrauen? Welches Bibelwort hilft mir zu unterscheiden im Sturm der Meinungen?
Thomas Thiel: Ich gehe noch mal einen Schritt zurück. Immer wieder frage ich mich, was das Wort "Russland" bei mir auslöst. Ein großer Teil meiner Familie floh 1944 aus Schlesien vor "den Russen". Sie verkörperten das Böse schlechthin, ein klassisches Feindbild. Ich war nie in Russland, aber ich liebe die Romane von Puschkin und die Musik von Tschaikowski. Russland ist so viel mehr als das Feindbild, das sich gerade neu verfestigt. Was also prägt mein Denken über dieses Land und die Menschen, die dort leben? Ich möchte verstehen, warum Menschen eine Waffe in die Hand nehmen und abdrücken, wie sie Raketen auf den Weg schicken können oder einen Panzer beschießen können, in dem dann drei junge Menschen elendig ersticken und verbrennen.
Claudia Thiel: Zur Frage nach den Ursachen gehört auch die Frage nach den Konsequenzen, gerade jetzt, im ausgebrochenen Krieg. Die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche von 2007 nennt ein Kriterium, das mich nicht in Ruhe lässt. Es geht dabei um die Verhältnismäßigkeit der Folgen, wörtlich:
"Das durch den Erstgebrauch der Gewalt verursachte Übel darf nicht durch die Herbeiführung eines noch größeren Übels beantwortet werden."
Claudia Thiel: Ich weiß nicht, was das praktisch genau heißt, aber es bringt mich auf eine starke Spur: Es muss Wege geben, die jenseits von Gewalt und Gegengewalt sind. Es muss Ideen geben, wie man "dem Rad in die Speichen fallen" kann, mit anderen Mitteln. Und dabei ist mir klar: Es gibt nicht nur das eine Rad. Es gibt in der Kriegsmaschinerie eine Reihe von Rädern, die sich bedrohlich drehen. Es braucht Kriterien, um diese Räder zu identifizieren. Und dann müssen wir sie laut und deutlich benannt werden.
Thomas Thiel: Ich bin überzeugt – solche Kriterien müssen von außerhalb jeder Kriegslogik kommen. Mir scheint ein Vers aus Psalm 34 ein erster Schritt zu sein. Er gibt eine vierfache Handlungsperspektive:
"Halte dich vom Bösen fern und tue Gutes,
setze dich für den Frieden ein
und verfolge dieses Ziel mit ganzer Kraft."
(Musikakzent: Leonard Cohen: Anthem – There is a crack in everything)
Thomas Thiel: …singt Leonard Cohen in einem seiner berühmtesten Lieder. Da ist ein Riss, ein Spalt in allen Dingen – so kommt das Licht herein, hinein in diese Welt. In diese Welt, in der, wie Cohen dichtete, die "Killer in den Regierungsämtern ihre Gebete hinausposaunen".
Für mich klingt das wie eine Neuinterpretation des Evangeliums. Es gibt einen Ort, wo etwas auf-bricht, wo etwas Festgefügtes den Zusammenhalt verliert. Dort, wo es scheinbar vernünftig klingt, wo alle einer Meinung sind und sich nur gegenseitig bestärken: Da muss Licht herein, da ist etwas faul, das darf nicht so bleiben.
Claudia Thiel: Die Bibel erzählt von Jesus als großem Aufbrecher des Offensichtlichen. Denn das vermeintlich Offensichtliche versteckt und verdirbt die verborgene Wahrheit. Wahrheit ist weder laut noch einfach. Erst unter der Oberfläche von Gut und Böse findet sie sich. So gern wir klare Verhältnisse hätten: Hier Gut – dort Böse: Die Welt ist komplizierter. In keinem Krieg gibt es eine nur gute und eine nur böse Seite. Krieg ist immer böse. Und jeder Schuss, der sein Ziel trifft, macht einen Menschen schuldig.
Ich glaube: Jesu Haltung zu Macht und Gewalt ist eine Handlungsanweisung zu einem dritten Weg, heraus aus dem Dilemma des Offensichtlichen und aus dem Dunkel von Gewalt.
"Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die linke hin".
Claudia Thiel: Jesu Wort aus der Bergpredigt verstehe ich so:
Man schlug nur mit der rechten Hand, die linke Hand galt als unrein. Der Schlag auf die rechte Backe ist also nur mit dem Handrücken möglich. Und das war eine Geste der Erniedrigung. So schlug ein Herr seinen Sklaven.
"Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die linke hin".
Claudia Thiel: Die linke Backe hinhalten demonstriert: Ich bin dir gleichgestellt. Das ist riskant, mutig und stark. Es zeigt: Du kannst mich noch einmal schlagen, aber damit wirst du anerkennen, dass wir auf Augenhöhe sind.
So wird es zu keinem zweiten Schlag kommen, denn der Herr wird sich nicht auf die Stufe eines Sklaven begeben. Dann hat die Gewalt ein Ende, durch Mut und Stärke, aber ohne weitere Gewalt einzusetzen.
Thomas Thiel: So könnte es gehen. Wer den Kreislauf, die Spirale der Gewalt durchbricht, der ist wirklich stark. Nicht wer Waffen einsetzt oder liefert, sondern wer verhindert, dass sie hergestellt und eingesetzt werden. Schon 1946 hat der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew geschrieben:
"In dem Moment, in dem die Macht des Staates und der Nation als höchster Wert verkündet wird, ist der Krieg bereits praktisch erklärt, alles ist bereits auf seine Möglichkeit vorbereitet, und zwar sowohl in geistiger als auch in materieller Hinsicht…"
Claudia Thiel: Es braucht ein neues, starkes Denken jenseits des Nationalstaatendogmas, ein Denken, dass von der Freiheit aller Menschen ausgeht. So kann Frieden – Schalom – also wirklicher Frieden entstehen. Jesus Christus hat uns ein paar Beispiele hinterlassen. Er rechnet damit, dass wir ihm folgen und das Licht hereinlassen - und mit ihm die Wahrheit.
(Musikakzent: Cohen, Anthem)
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Reinhard Mey, Reinhard Mey & Freunde: Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht, CD: Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht.
- Paul Simon, Disturbed: The Sound of Silence, CD-Titel: The sound of Silence, Track Nr. 1.
- Leonhard Cohen: Anthem, CD-Titel: The essential, Track Nr. 8.
Literaturangaben:
- https://www.ekd.de/Augsburger-Bekenntnis-Confessio-Augustana-13450.htm
- Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 13 (DBW 13), 298ff
- https://www.ekd.de/friedensdenkschrift.htm
- Walter Wink, Verwandlung der Mächte: Eine Theologie der Gewaltfreiheit
- Nikolaus Berdjajew, Über die Sklaverei und die Freiheit des Menschen, übersetzt von Louis Defeche, vgl. https://dasgoetheanum.com/krieg-was-geschieht-zwischen-den-menschen/