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In Krisensituationen geht es immer um Entscheidungen. Sie müssen schnell getroffen werden. Diskussionen bleiben aus. Im Moment der Entscheidung ist noch nicht sichtbar, welche Folgen sie haben. Es wird ‚auf Sicht gefahren‘. Oft ist nur klar: So wie bisher kann es nicht weitergehen.
Krisen können alles bisher Geglaubte in Frage stellen, lebensbedrohlich werden. Krisen sind aufregend. Ängstigend. Manche vertragen das nicht. Andere begeben sich gern hinein, sind bereit zu experimentieren und Neues auszuprobieren.
In jedem Fall: Sie fordern den ganzen Menschen.
Die Mächte, die in Krisen wirksam werden, sind oft nicht recht sichtbar. Der Entscheidungsdruck beeinflusst die Entscheidungsfindung. Anstelle eines vernünftigen Diskurses gewinnen Bilder und Emotionen an Einfluss und Macht. Sinn und Verstand drohen die Deutungshoheit über ganze Lebensbereiche zu verlieren. Angst wird zu einem Faktor, der Meinung macht und Entscheidungen bestimmt - auf der Straße wie in der Politik.
Freiheit und Sicherheit scheinen zu einander widersprechenden Konkurrenten zu werden:
"Stellen Sie sich vor, dass Sie morgen nach New York fliegen wollen. Zwei Flugzeuge stehen dafür bereit. Um in das erste Flugzeug einsteigen zu können, müssen Sie sich streng kontrollieren lassen. Ihr Gepäck wird durchleuchtet, Sie müssen sich ausziehen, Ihr Laptop wird geöffnet, die letzten E-Mails durchgesehen, Ihr Handy wird ausgelesen. Das Ganze dauert zwei Stunden. Das zweite Flugzeug können Sie ohne jede Kontrolle betreten. Welches Flugzeug wählen Sie?
Tatsächlich werden die meisten Menschen das erste Flugzeug nehmen. Sicherheit ist uns näher als Freiheit. Das erklärt die hohe Zustimmung der Bevölkerung zu immer härteren Maßnahmen. Mich beunruhigt diese Tendenz." (1)
So hat Ferdinand von Schirach die Situation in seinem Dialog mit Alexander Kluge in dem Büchlein "Trotzdem" auf den Punkt gebracht. Seit dem 30. März dieses Jahres, an dem dieser Dialog entstand, hat sich viel in Deutschland und der Welt verändert und tut es noch. Die Einsicht von Schirachs: "Sicherheit ist uns näher als Freiheit." Das ist zutiefst menschlich. Aber es macht mich auch unruhig und ich frage mich selbst: In welches Flugzeug würde ich steigen?
Etwa im 18. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius -im Jahr 32 unserer Zeitrechnung – kommt es in Jerusalem zu einer religiösen Krise. Ein enthusiastischer Vertreter einer neuen Gruppierung innerhalb des Judentums, die bald die "Christen" genannt werden, hält eine provozierende Rede. Die Freiheit des Redners erscheint bedrohlich. Anstelle von Argumenten fliegen Steine, anstelle des Verstandes regieren die Emotionen und die Macht der Mehrheit wird zu Gewalt. Die Krise eskaliert.
"Als Stephanus das sagte, packte seine Zuhörer ein unbändiger Zorn, und ihre Gesichter verzerrten sich vor Wut. [...] Vor Empörung schrien die Ratsmitglieder laut auf und hielten sich die Ohren zu. Alle miteinander stürzten sie sich auf ihn und schleppten ihn vor die Stadt, um ihn zu steinigen." (Apg 7,54-58 – Neue Genfer Übersetzung)
In dieser hochemotionalen Situation ist Stephanus chancenlos. Die Mehrheit übt ihre Macht mit Gewalt aus. Noch ist einer nur Zuschauer: Saulus aus Tarsus. In der Apostelgeschichte heißt es: "Saulus aber war mit dieser Hinrichtung voll und ganz einverstanden." (Apg 8,1) Dann setzt er selbst "alles daran, die Gemeinde auszurotten. Er durchsuchte Haus für Haus, und wo er Christen fand, ließ er sie abführen – Männer wie Frauen – und ließ sie ins Gefängnis bringen."
(Apg 8, 3)
Krisen stellen die Machtfrage, sie sind Zeiten der ‚Machtspiele‘. Gespielt wird mit der Angst der Menschen. Sie ist der Einsatz. Wer mehr von ihr erzeugen kann, übernimmt die Deutungshoheit.
Für Michel Foucault, den 1984 verstorbenen französischen Philosophen, war Macht DAS Thema, das sein Denken bestimmte und vorantrieb. Immer wieder versuchte er zu ergründen, was das Zusammenleben der Menschen organisiert, welche Prozesse dabei ablaufen. In einem Interview gegen Ende seines Lebens sagte er einmal: "Im Grunde habe ich nichts anderes geschrieben als eine Geschichte der Macht." (2) In einem 1982 verfassten Text fasst er zusammen:
"Die Ausübung von Macht ist keine bloße Beziehung zwischen individuellen oder kollektiven Partnern, sondern eine Form handelnder Einwirkung auf andere. Das heißt natürlich, dass es so etwas wie die Macht nicht gibt, eine Macht, die global und massiv oder in diffusem, konzentriertem oder verteiltem Zustand existierte. Macht wird immer von den einen über die anderen ausgeübt." (3)
Der radikalisierte Saulus gehört auf die Seite der Mächtigen. Die Religionskrise will er in den Griff bekommen, indem er die Ausbreitung der Christen gewaltsam verhindert. Doch dann kommt alles ganz anders. Im berühmten "Damaskuserlebnis" erscheint ihm der auferstandene Christus, der die Macht des Saulus in Frage stellt:
"Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. […] Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht." (Apg 9,3-9)
Man könnte die Intervention Jesu Christi fast gewaltsam nennen. Aber eben nur fast. Denn sie zielt auf Unterbrechung, nicht auf Ausgrenzung. Der Krisenmodus des Saulus wird in Frage gestellt: der selbsternannte Experte im gewaltsamen Problemlösen muss innehalten. Als Paulus sieht er ein – er hatte nur eine eingeschränkte Sicht auf die Wirklichkeit.
Das paulinische Lehrstück: Sich in seinem eigenmächtigen Handeln unterbrechen lassen. Die Wahrheitsfrage neu stellen. Umdenken können. Vertrauen in sein Gegenüber fassen. Christlicher Umgang mit Krisen erscheint so als eine Vertrauens- und Wahrheitsfrage. Dazu bedarf es einer hohen geistigen Wachheit. Denn schnell führen Emotionen, egoistische Bedürfnisse oder vermeintliche "Wahrheiten" von der Ohnmacht, genauso wie von der Macht, zu Gewalt. Michel Foucault beschreibt Gewalt und Macht in ihren Beziehungen sogar als einander ausschließend:
"Gewaltbeziehungen wirken auf Körper und Dinge ein. Sie zwingen, beugen, brechen, zerstören. Sie schneiden alle Möglichkeiten ab. Sie kennen als Gegenpol nur die Passivität, und wenn sie auf Widerstand stoßen, haben sie keine andere Wahl als den Versuch, ihn zu brechen. Machtbeziehungen beruhen dagegen auf zwei Elementen, die unerlässlich sind, damit man von Machtbeziehungen sprechen kann: Der Andere (auf den Macht ausgeübt wird) muss durchgängig und bis ans Ende als handelndes Subjekt anerkannt werden. Und vor den Machtbeziehungen muss sich ein ganzes Feld möglicher Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen öffnen."[4]
Krisenzeiten stellen vehement die Machtfrage, indem sie die Macht in Frage stellen. Schlägt Macht oder auch ihr Gegenstück, die Ohnmacht, in Gewalt um? Welche am Diskurs Beteiligten sollen entmächtigt, welche Akteure ermächtigt werden, auf welcher Grundlage, zu welchem Preis und mit welchem Ziel?
Das alles sind keine einfachen Fragen. Als Einzelner kann ich Informationen und vermeintliche Fakten kaum überprüfen und Konsequenzen nur schwer abschätzen. Auch deshalb geht es in Krisenzeiten immer um Vertrauen – und um die Freiheiten, die ein gegenseitiges Vertrauen erst eröffnen. Was Focault die ‚Anerkennung des Anderen als handelndes Subjekt‘ nennt, ließe sich als Freiheit und Würde des Einzelnen fassen.
Was würde sich am Diskurs ändern, wenn es kritisch um Vorschläge und Ideen geht – und nicht darum, von wem sie kommen?
Und Saulus? Als Paulus kann er sich nicht mehr auf undifferenzierte Gewaltbeziehungen zurückziehen. Er findet eine neue Rollenbeschreibung für sich, nennt sich später sogar einen ‚Narren‘. Ein Narr mit der Freiheit, selbständig zu denken. Christliche Freiheit ist auch Narrenfreiheit. Unabhängig vom Zeitgeist – aber orientiert an Christus und an der Nächstenliebe. Und bereit, Verantwortung zu übernehmen, vor Gott und für den Nächsten.
So betrachtet ist Macht keine Gewaltbeziehung. Sondern notwendig frei und offen, immer nach alternativen Wegen in der Krisenbewältigung zu suchen. Nicht überheblich, sondern gemeinsam mit den Betroffenen. Ein Drohen mit Alternativlosigkeiten schließt das ebenso aus wie den Anspruch, die eigene Perspektive zur alleinigen Wahrheit zu erheben.
Dass Krisensituationen die gewohnten Abläufe unterbrechen, ist eine Binsenweisheit. Notwendig scheint die Unterbrechung aber gerade in Krisen zu sein. Denn sie erst schafft den Freiraum zur Freiheit.
Paulus wurde solche Freiheit vor Damaskus geschenkt. Er hat das Geschenk angenommen und sein Leben verändert. Vom Christenverfolger ist er zum Christusnachfolger geworden. Die Maske der Gewalt hat er mit der Narrenkappe getauscht und sich als verletzten und verletzbaren Menschen gezeigt. Einer, in dessen Schwachheit sich die Kraft Christi zeigt.
Ein Ende vom Krisenlied ist das nicht. Paulus hat immer weiter argumentiert und sich nicht weggeduckt. Er bleibt widerständig. Die Freiheit, zu der Christus befreit, ist eher ein Anfang: Statt Sicherheit zu versprechen, bietet sie Vertrauen an, nimmt den Nächsten mit seinen Bedürfnissen und auch mit abweichender Meinung wahr, begründet und hinterfragt auch die eigenen Argumente kritisch und übernimmt bereitwillig Verantwortung in der Welt.
Welches Flugzeug würde ich nehmen? Das erste, mit der Sicherheit und den scharfen Kontrollen? Meine Antwort auf die Frage im Dialog von Ferdinand von Schirach:
Ich glaube, lieber würde ich in das zweite einsteigen. Aber das wird meine persönliche Entscheidung sein.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung
- Giora Feidmann, Desert Dawn, CD-Titel: Viva el Klezmer
- Anourar Brahem, Badhra, CD-Titel: Thimar
- Anourar Brahem, Talwin, CD-Titel: Thimar
- Abraham Burton, Laura, CD-Titel: Closest to the Sun
- Giora Feidmann, Let’s sing, CD-Titel: Viva el Klezmer
Literaturangaben dieser Sendungen
1. Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge, Trotzdem, April 2020, S. 72
2. Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften. Vierter Band, Frankfurt am Main 2005, S. 103 (Gespräch mit Ducio Trombadori 1978)
3. Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften. Vierter Band, Frankfurt am Main 2005, S. 285
4. Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften. Vierter Band, Frankfurt am Main 2005, S. 285.