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Wir schreiben den 17. März 1929. Ein junger Mann läuft durch die Gassen seiner Heimatstadt Altshausen in der Nähe vom Bodensee. Es ist Sonntag. Aus der evangelischen Kirche dringt Orgelmusik, dann setzt kräftiger Gesang ein: "Tut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein." Der junge Mann nimmt es wörtlich, öffnet vorsichtig die Kirchentür. Das Gotteshaus ist voll. Ein paar Menschen drehen sich um. Sie sind festlich gekleidet, die Gemeinde feiert Konfirmation. Der junge Mann setzt sich vorsichtig, er will nicht stören. Man kennt ihn. Seine Familie genießt hohes Ansehen, der Großvater war Bürgermeister gewesen.
Als der Pfarrer die Einsetzungsworte des Abendmahls spricht, regt sich in dem jungen Mann - er heißt Gustav Mesmer - Widerstand. Er geht zum Altar und erklärt laut: "Des isch et des Blut Jesu Chrischti, des isch älles Schwindel!" Und um sicher zu sein, dass es auch alle gehört und verstanden haben, ruft er es noch zwei, drei Mal, immer lauter: Das ist nicht das Blut Jesu Christi, das ist alles Schwindel.
Das ist dann doch zu viel. Man packt ihn, zieht ihn den Mittelgang entlang nach draußen. Gustav Mesmer schreit noch ein paar Mal. Dann ist Ruhe. Der Gottesdienst wird fortgesetzt. Gustav bringt man in sein Elternhaus. Ein paar Tage später wird er in die nahegelegene Heilanstalt Bad Schussenried eingeliefert. Diagnose: "Schizophrenie, langsam fortschreitend, bei einem von Haus aus vielleicht schon schwachsinnigen Menschen."
Bis 1949 wird er in der Klinik bleiben. 20 Jahre lang. Dann verlegt man ihn auf eigenen Wunsch in die Psychiatrie Weissenau bei Ravensburg. Dort bleibt er als Patient bis zu seiner Entlassung 1964.
Ein einziger Tag hat das Leben dieses jungen Menschen radikal verändert. Was hat ihn dazu gebracht, so laut seine Meinung zu sagen und damit einen solchen Aufruhr zu provozieren? Konnte er sich die Konsequenzen ausmalen?
Das Leben Gustav Mesmers ist ein Spiegel deutscher Psychiatriegeschichte. Und es ist mehr: Es ist die Geschichte eines Menschen, der nicht in Schubladen und Klassifizierungen passte. Er suchte seinen ureigenen, originellen und vielleicht auch skurrilen Weg zu Gott. Vielleicht war er eine Art "Narr in Christo". Einer von der liebenswürdigen Sorte. Aber es ist auch die Geschichte eines Lebens, das von Tragik und Traurigkeit geprägt war.
Wer ist an wem gescheitert: Gustav Mesmer an der Gesellschaft oder die Gesellschaft an ihm? Wie gehen eine Kirchengemeinde und die Gemeinschaft am Ort um mit einem Menschen, der auffällt und stört, der aber große Kreativität in sich hat, wie sich Jahrzehnte später zeigen wird? Das beschäftigt uns als Klinikseelsorgende in den beiden Psychiatrien, in denen Mesmer so viel Lebenszeit verbracht hat. Darum erzählen wir heute von ihm.
Gustav war das sechste Kind der großen, angesehenem Familie Mesmer. Er hatte elf Geschwister. Krankheiten prägen seine Kindheit. In seiner Biographie schreibt er:
"(…) das ganze 4te Schuljahr entfallen durch Krankheit, eine doppelte Halzoperation, bei der durch Eingriff und durch Schlafnarkose die Sinnesorgan-Adern verletzt wurden, so die regelrechte Fortbildung zerrrissen lag, durch den Krieg 1914 ein Entfall von guten Lehrern, Kriegsinvalieden gaben nur noch Unterricht, die Vorbildungs-Schule war nicht mehr erreichbar. Wo die Schule versagt, geht das ganze Leben ein Nebenweg." (1)
Gustav geht einen Nebenweg. Auf Empfehlung von Ordensschwestern tritt er ins Kloster Beuron ein und wird sechs Jahre bleiben.
In seiner Autobiographie kommt Mesmer immer wieder auf seine Klostererfahrungen zurück: "Ich war halt von Beuron her aller Teufelsgedanken voll." Und weiter: "im Beichtspiegel u. Betrachtungen die Kopfnerven überanstrengt." (2)
Der Gottsucher Gustav Mesmer scheitert am rigiden System der Klosterfrömmigkeit. Was genau ihm dort widerfahren ist, wissen wir nicht. Sicher ist aber, dass er nach sechs Jahren gebrochen und verunsichert zurückkehrt. Was für einem Gottesbild ist er da begegnet?
Gustav Mesmer wird später seine eigene Theologie entwickeln, seine Erfahrungen in Worte fassen.
Gustav Mesmer muss sich in der Heilanstalt Bad Schussenried zurechtfinden. Er ist handwerklich begabt, als Korbflechter geschätzt. Die Langeweile überfällt ihn trotzdem immer wieder. Er reißt aus, wandert tagelang durch Oberschwaben, etwa 15 Mal passiert das. Aber jedes Mal wird er von der Polizei zurückgebracht. Seine Briefe und Bitten um Entlassung bleiben unbeantwortet, ungehört. Er schreibt:
"Der Anstaltsgarten war von einer hohen Mauer umgeben, kein Blick ins Volkstreiben wäre möglich gewesen, hohe, eng gepflanzte Bäume füllten die Anlage, wie ein Buchenwald. Die Patienten taumelten ganz nach ihrem Vermögen umher, da setzte ich mich meist in die Nischen, auf den Sockel der Mauer und scheuchte meine Langeweile, das Leid durch kleine Beschäftigungen, Kiesel sortierend." (3)
1934 tritt das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft. 1939 beginnt das NS-Regime mit seiner "Aktion T4" zur "Tötung lebensunwerten Lebens". Bis 1941 werden über 70.000 Menschen ermordet. Aus Bad Schussenried bringen die "Grauen Busse" 620 Psychiatriepatienten nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, wo die Patienten und Patientinnen vergast werden.
Gustav Mesmer entgeht dem Morden. Die Anstaltsleitungen der Psychiatrien hatten die Möglichkeit, die Tötungslisten selbständig auszufüllen. Mesmer galt als guter Arbeiter, man konnte ihn brauchen. Er selbst hat es als Bewahrung erlebt. Aber wie die meisten Patienten ahnte er, was geschieht.
Mesmer bestätigt dies noch 40 Jahre später: "dia send se joa haufaweise gstorba, end´r Anstalt, ... vom vergasa." (4) Nach dem Krieg will er deshalb weg aus Schussenried. Die Angst wird sich eingenistet haben in seiner Seele. Er hatte die Pfleger, die an den Deportationen mitgewirkt hatten, noch immer vor Augen und ertrug sie nicht mehr. So kommt er 1949 in die Psychiatrie Weissenau bei Ravensburg und bleibt dort noch einmal 15 Jahre. Nach wie vor festgehalten lässt er seine Gedanken fliegen.
Gustav Mesmer hat in der Psychiatrie vom Fliegen geträumt und unter anderem dieses Gedicht geschrieben:
"Kannst du einmal fliegen! Steig auf einen Hügel, steig in die Höhe
ach wär dies für dich so schön so frei sein wie die Vögel
durch den letzten Raum der Erde
zu passieren bei Sonnenschein wie blühender Natur
Wann ich schaukle durch die Lüfte
Welch herrliches Gefühl unser Menschheitswunsch
Nun ist erfüllet, nur auferstehen.
Der Luftraum ist noch frei für dich
Ersinne dir schnell ein paar Flügel
Frei sollen sie dich heben,
du sollst durch die Lüfte schweben
ach wäre das dein Glück." (5)
Schon am 10. Oktober 1932 findet sich in den Krankenakten von Mesmer die Notiz: "Hat eine Flugmaschine erfunden, gibt entsprechende Zeichnungen ab." Seitdem wird Mesmer nicht müde, immer neue Flugräder und Flugmaschinen zu zeichnen und später, besonders nach seiner Entlassung 1964 aus der Psychiatrie Weissenau, auch zu bauen. Viele hundert Zeichnungen, Skizzen entstehen, teils mit genauen Bauanweisungen, Bedienungsanleitungen. Oft mit bunten Farben koloriert, ein Bild schöner und eindrücklicher als das andere. Mesmers Vorstellungskraft scheint grenzenlos. Er benutzt jedes Papier, das ihm in die Hände kommt.
Es ist kein Zufall, dass sich in Mesmers Gedicht das Wort "auferstehen" findet:
"Nun ist erfüllet, nur auferstehen – der Luftraum ist noch frei für dich."
Mesmer ist ein Luft-Raum-Theologe der besonderen Art, der akademisch nicht zu fassen ist, so grenzenlos ist sein Fabulieren.
Mesmer ringt um Gott. Gleichzeitig entwirft er Flugräder, mit denen man schneller und leichter von einem Dorf zum anderen flugradeln kann. Die Schwäbische Alb und Oberschwaben sind recht hügelig.
Seinen Gedanken über Gott verleiht er ebenfalls Flügel. Sie sind schwer zu fassen, höchstens leiblich zu erfahren: "Gott und Menschheit kannst du nicht unterscheiden. Gottes wirken kannst du im Körper fühlen", (6) schreibt er einmal. Das ist nahe an neuen Einsichten aus Psychotherapie und Seelsorge, die verstanden haben, dass Glaube und ein gesundes Seelenleben nur leiblich zukunftsfähig sind.
Eines seiner schönsten Bildworte lautet: "Gott ist wie ein Öltropfen schwebend auf dem Seelenmeer." (7) Da klingen die ersten Worte der Bibel mit – als der "Geist Gottes über den Wassern schwebte". Mesmer, der Bastler, Tüftler und Flugradbauer spinnt die Worte der Bibel kongenial weiter. "Theopoesie" könnte man viele seiner Texte nennen, wenn das Wort nicht schon wieder zu akademisch klingen würde.
Als Gustav Mesmer nach 35 Jahren die Psychiatrie verlässt und in ein Altersheim auf der Schwäbischen Alb zieht, bleiben ihm noch drei Jahrzehnte kreativen Arbeitens. Er wird nicht müde, sein Geist bleibt hellwach. Zu lange war er eingesperrt hinter Klinikmauern. Im Denken ist er immer geflogen.
Spät wird er doch noch entdeckt. 1992 wurde eines seiner Flugräder auf der Weltausstellung in Sevilla im Deutschen Pavillon gezeigt. Zu seinem 90. Geburtstag gibt es eine große Ausstellung seiner Werke im Schloss Altshausen – an dem Ort, an dem er 64 Jahre zuvor das Abendmahl störte und daraufhin in die Psychiatrie kam.
Ein Jahr später starb Gustav Mesmer, vielleicht sogar "lebenssatt", wie es biblisch heißen würde. Um sein Werk kümmert sich mit großem Engagement die Gustav-Mesmer-Stiftung. Seine theologischen Schätze aber sind noch lange nicht gehoben.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Eva Cassidy, Over the Rainbow
2. Jethro Tull: Wind Up
3. Taize instrumental, Nada te turbe
4. Hans-Jürgen Hufeisen, Champagner
5. Reinhard Mey, Über den Wolken
Literatur dieser Sendung:
1. Juliane Stiegele, in: Gustav Mesmer, Flugradbauer – Ikarus vom Lautertal genannt, S. 391
2. Ulrich Mack, Flugradbauer Privatmönch Visionär. Gustav Mesmer, sein religiöses Suchen und Denken, S 15
3. Gustav Mesmer Stiftung, Gustav Mesmer Flugradbauer Ikarus vom Lautertal genannt
4. Ulrich Mack, Flugradbauer Privatmönch Visionär. Gustav Mesmer, sein religiöses Suchen und Denken, S. 24
5. Stiegele, Flugradbauer, S. 398
6. Stiegele, Flugradbauer, S. 406
7. Ulrich Mack, Flugradbauer Privatmönch Visionär. Gustav Mesmer, sein religiöses Suchen und Denken, S. 100