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Freitagabend, ein Tangoworkshop in Berlin. Die ersten bewegen sich über die Tanzfläche, als Paare sind sie gekommen, aber auch viele Einzelne. Auch, weil Tango mehr ist als Tanzen. Davon überzeugt ist Thomas Rieser, Gründer und Leiter der Tanzschule Nou Tango Berlin:
Thomas Rieser:
Wenn man da ein bisschen aufmerksam ist, ist es ja nicht nur das, dass sich da die Haut berührt, sondern man spürt eben, dass man einem Menschen begegnet. Und das ist, glaube ich, schon etwas, was besonders ist, weil wir beim Tango tanzen ja eine Situation haben, wo wir plötzlich mit jemandem – oft sind das fremde Menschen, die wir halt da treffen, mit denen wir tanzen, die wir gar nicht kennen, wir haben mit denen gar nicht geredet, wir wissen wahrscheinlich gar nicht wie die heißen. Aber wir tanzen vier Lieder miteinander, also vier mal drei Minuten. Zwölf Minuten. Und haben dabei eben diese Berührung, die durch die Haut durchgeht. Und das ist wirklich was sehr Eindrückliches, was viele dann auch immer wieder suchen.
Die Tangoszene in Berlin gilt als eine der größten der Welt. Wenn man sich im Raum umschaut, sieht man Menschen jeden Alters. Von "16 bis 83" reicht das Altersspektrum, erzählt Thomas Rieser. Einmal vom Tangovirus infiziert, kommen sie immer wieder und finden etwas, was es in ihrem Alltag kaum noch gibt:
Thomas Rieser:
Wir haben nicht mehr so viel Berührung im Leben heute. Das ist ja auch so. Definitiv. Und im Tango haben wir die Berührung. Und allein dieses berührt werden – und das dann eben im sicheren Raum und in Verbindung – das ist für mich ein wichtiger Aspekt – mit der Musik. Und auch im sozialen Raum. Dass man es eben nicht alleine hat. Es ist nicht im Zimmer, wo zwei Personen anwesend sind oder vier oder sechs. Aber es ist in einem großen Saal, wo hundert Personen sind, die das gleiche machen, gleichzeitig. Wo also auch eine gewisse Schwingung entsteht. Weil das ist auch so, man kennt das ja, wenn der ganze Raum tanzt, dann möchte man mittanzen. Man wird da so reingezogen. Ich glaube, was die Menschen fasziniert ist, dass sie spüren, dass die physische Berührung ein seelisches Berührt-Sein mit sich bringt. Was man ja im Prinzip auch kennt, wenn man jemandem die Hand gibt oder so. Wenn man da ein bisschen aufmerksam ist, ist es ja nicht nur, dass sich da die Haut berührt, sondern man spürt eben, dass man einem Menschen begegnet.
Nach dem Workshop in der U-Bahn. Ein ganz anderer sozialer Raum. Auch hier 100 Personen. Gefühlt dreiviertel von ihnen versuchen die Berührung zu den Nahestehenden zu vermeiden. Stattdessen berühren sie den Touchscreen ihres Smartphones. Versuchen, ihrer Einsamkeit zu entfliehen, indem sie sich mit der ganzen Welt verbinden – virtuell...
Berührung ist die "erste Sprache", die Menschen erlernen. Ohne dass jemand selbst etwas dazu tun muss. Kleine Kinder werden einfach berührt von den Menschen, die ihnen die ersten Wege in die Welt bahnen. Und diese Berührungen sind wichtig, schreibt der Wiener Physiologe Cem Ekmekcioglu in seinem Buch "Drück mich mal":
"Bekommen Kinder zu wenig Berührung, versuchen sie, dieses Manko durch Selbstberührungen zu kompensieren. Dabei kann es auch zu autoaggressivem Verhalten kommen (…). Ein Mangel an positiven Berührungen verursacht bei Kleinkindern schwere neurologische Störungen." (1)
Die heilsame Kraft der Berührung kennen wohl alle Menschen. Doch die Berührungskultur ist im Wandel. Es gibt messbare Hinweise auf Bindungsstörungen von Kleinkindern, deren Mütter während des Stillens auch den Touchscreen des Handys berühren. (2)
Die Haut ist das größte Sinnesorgan des Menschen, ihre Sensibilität ein im wahrsten Sinne un-fassbares Wunder. Kleinste und feinste Berührungen nehmen wir wahr, spüren sie freudig und glücklich oder erschrocken und ängstlich. In Berührungen überwinden wir Distanz und kommen uns nahe. Dass Berührung mehr ist als physischer Hautkontakt, zeigt schon die Sprache: Ein Gespräch, ein Kinofilm, ein Sonnenuntergang am Meer kann mich kalt lassen – oder zutiefst berühren und ‚unter die Haut gehen‘.
Nicht jede Berührung ist heilsam und nicht jede Nähe ist angenehm. ‚Die Chemie‘, die stimmt oder nicht stimmt, schon in der Redewendung liegt eine tiefe leibliche Weisheit. Der Wärme- und Energieaustausch, der sich in jeder Berührung ereignet, kann auch überfordern und Abwehr auslösen.
Heilsame Berührung und Nähe, sie entziehen sich der eigenen Verfügbarkeit. Berührung lässt sich weder planen noch fordern. Sie geschieht, wenn ich meinem Gegenüber auf Augenhöhe begegne; seine oder ihre Selbstständigkeit und Integrität achte. Heilsame Berührung ist etwas, das man mit Geld nicht kaufen kann. Damit fällt sie aus der Zeit und irritiert. Andererseits wächst heute die Sehnsucht nach zärtlicher, lebendiger Berührung.
Besonders bedeutsam wird Berührung auch am Lebensende. Eine Pflegesituation kann aber auch Beispiel sein – für die Situationen und Phasen im Leben, in denen ich nicht mehr alles selbst regeln kann, sondern auf die Nähe, Behutsamkeit und eben Berührung anderer Menschen angewiesen bin.
Dr. Helen Güther, Diplom-Heilpädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Gerontologische Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar beklagt, dass:
"heute die Körperpflege, die Grundpflege oft als ein notwendiges Übel gesehen wird. Das ist das, was getan werden muss. Die Reinigung, das Ankleiden und Pflegen. Für Hygiene und Ernährung sorgen. Eine "Satt und Sauber"-Pflege."
Was die Kinderärztin Emmi Pickler schon 1946 in ihrem Kinderheim für Kriegswaisen entdeckt und gelebt hat, möchte sie in die Altenpflege übertragen:
"Die Grundpflege ist also nicht notwendiges Übel, sondern [...] eigentlich der Kern der Pflege, einer professionellen Pflege. Einer gelingenden Pflege. Pflege als Berührungsberuf, das heißt: Jede Geste mit Resonanz aufzufangen und zu erwidern und auf diese Weise sowohl ein psychisches Gewebe von Sicherheit und Bindung zu weben als auch die Pflege zu einer umfassenden Anerkennungsbeziehung zu machen. Es ist gerade die unmittelbar körperliche Berührung, die den Menschen zum Menschen macht."
Zum Teil sind es negative gesellschaftliche Altersbilder, zum Teil der immense Zeitdruck, dem Pflegende in ihrer Arbeit ausgeliefert sind: in Kombination mit einer immer noch erschreckend geringen Bezahlung verhindert das oft gelingende Berührungsbeziehungen, auf die alte, kranke und einsame Menschen so dringend angewiesen sind.
Bei der "berührenden" Pflege geht es nicht nur um Techniken, sondern vielmehr um eine Haltung:
"Weil ich in der Berührung als Non-Verbale Kommunikation mich als Person hinein begebe um diesem anderen dann auch als Person begegnen zu können. Um den anderen im wahrsten Sinne des Wortes auch spüren zu lassen, dass sie Person ist. Und an der Stelle, wo es um Haltung geht, die Entwicklung einer professionellen Haltung, da stehen wir in der Pflegewissenschaft noch ganz am Anfang."
Sich regelmäßig und gründlich die Hände zu waschen... Wie schnell Keime von einem Menschen zum anderen übertragen werden... das haben alle gelernt in unserer Gesellschaft. Ebenso stimmt aber, dass Berührungen das Immunsystem stärken und den Menschen erst zum Menschen machen. Hygieneangst kombiniert mit Tabus, die familiär oder gesellschaftlich erlernt oder eingeübt sind, behindert oft, da anzufassen, wo eine Berührung not-wendend wäre.
Ohne Tabus und ohne Scham hat Jesus Christus Menschen berührt. Die Heilungsgeschichten im Neuen Testament sind vor allem "Berührungsgeschichten". In ihnen kommt Jesus denen nahe, die alle anderen von sich fernhalten: Die Aussätzigen – Jesus streckt die Hand aus, berührt und heilt sie. (Mk 1,40-4) Für den Tauben und Sprechgestörten wird Jesu Berührung an Ohren und Zunge zum Ende seiner Abgeschiedenheit. Die Berührung macht ihn hörend und lässt ihn wieder reden. (Mk 7,32-36). Jesu Berührungen machen Blinde sehend (Mt 9,27-29), Gekrümmte gehen wieder aufrecht (Lk 13,10-13) und er weckt sogar Tote auf mit seinen Berührungen (Lk 7,11-15).
Jesus hat aber nicht nur Menschen heilend berührt. Der Evangelist Lukas erzählt, wie sich Jesus selbst berühren lässt:
Lk 7,36-38.44-46 (Neue Genfer Übersetzung)
36 Ein Pharisäer hatte Jesus zu sich zum Essen eingeladen, und Jesus war gekommen und hatte am Tisch Platz genommen.
37 In jener Stadt lebte eine Frau, die für ihren unmoralischen Lebenswandel bekannt war. Als sie erfuhr, dass Jesus im Haus des Pharisäers zu Gast war, nahm sie ein Alabastergefäß voll Salböl und ging dorthin.
38 Sie trat von hinten an das Fußende des Polsters, auf dem Jesus Platz genommen hatte, und brach in Weinen aus; dabei fielen ihre Tränen auf seine Füße. Da trocknete sie ihm die Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl. [...]
44 Dann wies er auf die Frau und sagte zu Simon: »Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen, und du hast mir kein Wasser für meine Füße gereicht; sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und mit ihrem Haar getrocknet.
45 Du hast mir keinen Kuss zur Begrüßung gegeben; sie aber hat, seit ich hier bin, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen.
46 Du hast meinen Kopf nicht einmal mit gewöhnlichem Öl gesalbt, sie aber hat meine Füße mit kostbarem Salböl gesalbt.
Zärtliche Intimität, in aller Öffentlichkeit. So anstößig die Situation in der damaligen Zeit gewesen sein muss, so wenig peinlich ist sie für Jesus Christus. Er lässt sich die Füße mit Tränen waschen, vom ihrem Haar trocknen, lässt sich küssen und anschließend salben. Das irdisch Leibliche ist hier das Heilige, das Wertvolle. Was die Frau tut, hat seinen Segen, am Ende schickt er sie mit dem Friedensgruß wieder in die Welt zurück: "Geh in Frieden!"
Was hier erzählt wird, erleben und erspüren immer mehr Menschen in Salbungsgottesdiensten. Menschen salben einander im Rahmen einer Gottesdienstfeier, berühren sich gegenseitig und segnen einander im Namen Gottes. Sie spüren, dass hier Energie leiblich übertragen und ihnen ein Friede vermittelt wird, den sie sich nicht selbst erarbeiten können.
Und es gelingt, diese Erfahrungen aus der Kirche in die Welt mitzunehmen. In die persönlichen Sozialräume jedes Einzelnen. Aus der berührenden Feier des Gottesdienstes wird berührtes, empfindsames Leben. Die Grenzen zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘ werden durchlässig, und Leben kommt in Kontakt. Leben in Bewegung.
Diese Bewegung kann genauso gut in der anderen Richtung stattfinden, für Tangolehrer Thomas Rieser ist der berührende Tanz heilsam:
Thomas Rieser:
Also ich bin überzeugt, dass Tango auf jeden Fall Heilpotential hat – in verschiedenen Bereichen. Das ist aber noch nicht wissenschaftlich belegt.
Vielleicht muss es das auch gar nicht sein. Vielleicht würde Jesus heute seinen Freundinnen und Freunden ganz anders auf Augenhöhe begegnen – und mit ihnen, befreiend und erlösend, einen Tango tanzen...
Thomas Rieser:
Ich glaube, dass da so Schwingungen sind, dass man in dieser Atmosphäre drin ist. Und auch die Leute dann sieht, wie die Augen leuchten. Und einfach mal ein Lächeln zu sehen, was ja auch nicht jeden Tag passiert, dass man Leute Lächeln sieht. Und auch schöne Gespräche hat dadurch. Ich glaube schon, dass das mir persönlich zumindest so eine gewisse Ruhe und einen gewissen Frieden gibt.
Musik dieser Sendung:
- Waltz for Nicky, Richard Galliano, Viaggio
- Christophers Bosse, Richard Galliano, Viaggio
- Buscandote, Quadro Nuevo, Tango
Literaturangaben:
- Cem Ekmekcioglu, Drück mich mal. Warum Berührungen so wichtig für uns sind, Frankfurt/Main 2015
- BLIKK-Studie 2017 http://www.drogenbeauftragte.de/presse/pressekontakt-und-mitteilungen/2017/2017-2-quartal/ergebnisse-der-blikk-studie-2017-vorgestellt.html#c10631 vom 05. Oktober 2017 (BLIKK Bewältigung. Lehrverhalten. Intelligenz. Kompetenz. Kommunikation)
- Neues Testament und Psalmen. Neue Genfer Übersetzung, Romanuel-sur-Lausanne, 2011
- Martin Reilich: Grenzfall Mensch. Biblische Impulse für eine Theologie der Berührung in: Stuttgarter Biblische Beiträge 69, hrgs. Frank-Lothar Hossfeld und Michael Theobald, Stuttgart 2013