gemeinfrei via pixabay / Gert Altmann
Narren und Christus
Die Freiheit des Karneval
16.02.2025 08:35

Unser Autor ist gebürtiger Brandenburger und Protestant. Mit Karneval hatte er lange nichts am Hut. Bis er die subversive Kraft der Narrenfreiheit entdeckte. 

Sendetext nachlesen:

Eine Krawatte, aus Maulbeerseide gewoben, schimmert, wenn das Licht auf die fließende Oberfläche trifft. Eine teure Markenkrawatte. Sitzt gut. Mit Windsorknoten. Die Krawatte sagt: Ich beherrsche die Regeln der Welt, egal ob Abendgala oder Geschäftstreffen. 

Nun nähert sich der Krawatte eine leicht angerostete Schere, gehalten von übergroßen Kostümhandschuhen. Und Schnipp-Schnapp. Ist sie ab. 
"Wir sind Narren um Christi Willen", steht in der Bibel im ersten Korintherbrief. (1.Korinther 4,10) Was haben Narren mit Christus zu tun? Erfüllt Krawatten-Abschneiden den Willen Christi? Passen Helau und Halleluja zusammen? Das sind so Fragen, die ich mir gebürtiger Brandenburger und deshalb eher unkarnevalistischer Mensch stelle, wenn ich mir das Narrentreiben aus sicherer Berliner Entfernung anschaue. 

In elf Tagen beginnen Rituale wie das mit der Krawatte. Bei der Weiberfastnacht. Frauen schneiden Männern die Krawatten ab. Sie kastrieren das Symbol männlicher Macht. Die Männer laufen nur noch mit einem Stumpf herum. Was sonst zu einer Anzeige wegen Sachbeschädigung führen könnte, ist in den jecken Tagen möglich. Der Karneval erlaubt es. 

Die Woche vor der Fastenzeit ist voll von Machtumkehrritualen. Trinkgelage oder Eselsmessen, bei denen Priester als Nutzvieh verkleidet werden, gab es im Mittelalter. Heute gibt es Karneval-Crossdressing. Männer ziehen sich wie Frauen an und umgekehrt. Das Fest verleiht den Mut, sich etwas zu trauen und auszuprobieren. Karneval hat von Anfang die bestehenden Machtstrukturen und Machthaber verspottet. In diesem Jahr finde ich das besonders erfrischend und nötig, da es wieder angesagt ist, die eigene Größe zu demonstrieren und anzukündigen, dass man sie sogar erweitern will. 

Der Mann mit der wahrscheinlich längsten Krawatte der Welt, der Präsident der USA Donald J. Trump, lässt sich in seiner Herrlichkeit nicht beschneiden. Er hat es nicht einmal ertragen, dass die anglikanische Bischöfin von Washington, Mariann Edgar Budde, ihn im Gottesdienst am Tag nach seiner Inauguration gebeten, ja angefleht hat: "Mr President. Millionen setzen ihr Vertrauen in Sie. Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie: Haben Sie Erbarmen mit den Menschen in unserem Land, die nun Angst haben." Sie nennt schwule, lesbische und transgender Kinder. Sie nennt Immigranten ohne Papiere, die nicht alle Verbrecher seien. 

Als ich die Predigt gehört habe, dachte ich: Respekt. Sie hat Mut. Sie nimmt sich die Freiheit, einem der mächtigsten Männer der Welt zu sagen, was er nicht hören will. Zu Zeiten von Königen und Kaisern hatten nur Narren diese Freiheit. Narrenfreiheit. Dabei ist solche Freiheit biblisch.  

Ich bin kein Karneval-Experte. Ich kenne Fasching nur als Tag in der Kita, an dem man sich verkleidet. Aber ich habe entdeckt, dass es Parallelen gibt zwischen der Narrenfreiheit und "der Freiheit der Kinder Gottes", wie sie die Bibel beschreibt.

Das Politische am Karneval habe ich in einem kleinen Ort im Brandenburgischen, 50 Kilometer südlich von Berlin, kennen gelernt. Eine Freundin hatte mich und meine Frau in den Alten Krug zur Feier des Karnevalclubs eingeladen. Den gibt es seit 1974. Der Vater unserer Freundin hat ihn mit aufgebaut. Sie war als Kind das Funkemariechen. Was auch immer das ist, habe ich damals gedacht. 

Wir kaufen Tickets und reservieren einen Tisch. Wir verkleiden uns aufwendig als Van Gogh mit blutendem Ohrverband und als Picasso mit Gummiglatze und Streifenpullover. Ein T-Shirt mit dem Aufdruck Cowboy oder eine Federboa hätten es auch getan. 

Die Show der Dorfmänner des Vereins werde ich nicht vergessen. Sie rollen ein riesiges, gusseisernes Bett in die Mitte der Tanzfläche. Acht Männer über 60 tragen Lederkleidung mit Nieten, die ich sonst in Berliner Fetisch-Cruising-Bars erwartet hätte. Sie performen eine riskante Choreographie mit Neon-Leuchtstangen. Ich habe gestaunt, wie weit Menschen aus sich herausgehen, von denen ich es nicht erwartet habe. 

So richtig "Klick" hat es gemacht, als der Vater unserer Freundin mir um drei Uhr morgens im Wohnzimmer eine Diashow aus der Geschichte des Karnevalclubs gezeigt hat. Anhand der Bilder erzählt er mir, dass Karneval für ihn und für die Leute auf dem Land in Brandenburg ein echter Freiraum war. Die Büttenreden und die Wahl der herrschenden Tollikgkeit des Prinzen und der Lieblichkeit der Prinzessin stellten eine Gegenwelt dar zum Regime der SED. Und dieser politische Freiraum, der hat seine Wurzeln in den christlichen Festen, im katholisch geprägten Karneval eben und in der christlichen Idee vom Wechsel von oben und unten durch Feste.

Das war mein Klickmoment. Ich habe begriffen, welche Freiheit der Karneval eröffnet. Die Stasi war auch im Dorfkrug damals mit im Raum. Aber sie duldete das Fest und seine Inhalte. Sich über die Machthabenden lustig machen zu können – das gab den Leuten Kraft. Das war ein Highlight in einem Jahresablauf, der sonst von der Partei vorgegeben wurde. Seitdem bin ich Karnevalfan, zumindest von weitem. Und Fan von denen, die sich als Spinner, Drag-Queens und Clowns verkleiden und die Welt auf den Kopf stellen. 

Ich glaube, das ist im Sinne von Jesus. Und das war es auch schon im Entstehen vom Karneval und von anderen solchen Festen. Jesus hat unterdrückerischer Machtstrukturen durchkreuzt. Jesus hat die Freiheit gelebt. Er hat sich nicht an Vorgaben gehalten, die Menschen die Luft zum Atmen rauben. Selbst wenn andere das komisch fanden, hat er getan, was den Lebensspielraum vergrößert. Und er hat alle, die ihm nachfolgen, ermutigt, sich ebenfalls diese Freiheit zu nehmen. So verstehe ich den Satz aus der Bibel: "Wir alle sind Narren um Christi willen."

Ich kenne einen ungewöhnlichen Nachfolger von Jesus. Auf dem Kopf ein Gauklerhut, der mit Bändern und Federn verziert ist. Abgenutzte Kleidung, zusammengeflickt aus verschiedenen Stoffen und Farben, bunt und schmutzig. Glocken und Schellen überall. Man weiß sofort, wo er ist, wenn es klingelt und scheppert. Ein Überlebenskünstler. Seine Kleidung allein erzeugt schon einen Freiraum, einen Gegenraum. Sie erzählt Geschichten vom Überleben, vom Frohsein in der Kälte, vom Humor am Rand der Gesellschaft und den Härten als Wanderer und Gaukler. Till Eulenspiegel. 

Ich stelle mir Till als Jünger von Jesus vor. Daniel Kehlmann hat einen Roman über ihn geschrieben – mit Ypsilon im Namen "Tyll". Tyll trifft Fürsten und Könige. Als Narr gehört er zum Hofstaat. Er darf es sich erlauben, seine Majestät zu beleidigen. Freilich muss er das rhetorisch geschickt verpacken. Und weil er die Mächtigen unmittelbar erlebt, versteht er ihre Nöte besser als andere. 

Till lehrt, die Welt durch seine Brille zu sehen. In der 22. Historie einer Sammlung von Eulenspiegel-Geschichten gibt sich Till als Brillenmacher aus Brabant aus. Der aber keine Brillen mehr machen kann. "Warum?", fragt ihn der Bischof von Trier. "Darf ich das sagen, ohne dass Euer Gnaden mir deshalb zürnen?" "Ja", sagte der Bischof, "wir sind das wohl gewohnt von dir und deinesgleichen. Sag‘s nur frei heraus und scheue nichts!" – "Gnädiger Herr, das verdirbt das Brillenmacherhandwerk, und es ist zu befürchten, dass es noch ausstirbt: dass Ihr und andere große Herren, Papst, Kardinal, Bischof, Kaiser, König, Fürst, Rat, Regierer und Richter der Städte und Länder (Gott erbarm‘s!) zu dieser Zeit durch die Finger sehen, was recht ist, und das nur um des Geldes und der Gaben willen." (Bote, Eulenspiegel, 44)

Durch die Finger sehen statt durch eine Brille ist ein mittelalterliches Sprichwort. Das heißt, Unrecht zulassen und wegschauen. Das sagt er dem Bischof und den anderen großen Herren ins Gesicht. Gott erbarm’s. Till balanciert mit Narrenfreiheit und Karneval-Klugheit, hinter denen die Forderung nach Recht und Gerechtigkeit sowie die Bitte nach Barmherzigkeit stecken. Sein Angriff auf die Macht ist gedeckt von Ironie und abgesichert mit Humor. Er ist ja nicht ganz bei Trost, bleibt immer anders, immer draußen, immer nur temporär dabei. Sein Kostüm und seine Rede setzen die Regeln außer Kraft. Er nimmt sich die Freiheit und feiert sie. Und zieht weiter. 

Den Schalk spielen, den Mächtigen den Spiegel vorhalten, den Blick auf die lenken, die sonst oft übersehen werden, das zelebriert der Karneval. Für mich kommen da Helau und Halleluja zusammen. Im Fest und mit den Narren können die Letzten die Ersten überholen, laut sein, bunt und knallig sichtbar und heilige Lebenskraft spüren. 

Ich lese die Evangelien so, dass Jesus solche Freiräume eröffnet hat: Was wäre, wenn… die einen die anderen nicht unterdrücken, sondern einer dem anderen dient? Was wäre, wenn… Reiche ihr Vermögen nicht nur zum eigenen Vorteil vermehren? Was wäre, wenn… Wo sich solche Freiräume auftun, ergeben sich Begegnungsstätten mit Gott. 

An Karneval herrscht Narrenfreiheit. Das Fest ist eine Eigenzeit mit Eigenleuten und Eigenregeln. Das macht Laune aufs Leben. "Wir sind Narren um Christi willen", steht in der Bibel. Christus selbst galt schon zu seinen Lebzeiten vielen als Narr. Einer, der völlig anders lebte und herumwanderte, Regeln in Frage stellte, für seine Vorstellung von Gottes Liebe alles riskiert hat, sogar sein Leben. Für Außenstehende hätte Jesu Einzug in Jerusalem närrisch aussehen können. (Matthäus 21,1-11) Da kommt einer auf einem strubbelig-muffeligen, kleinen Esel geritten. Seine Beine schleifen fast am Boden, aber die Leute jubeln ihm zu, als wäre er ein König. Sie feiern ihn als den, der sie von der Unterdrückung der herrschenden Römer befreit. Die Jerusalemerinnen und Jerusalemer improvisieren einen Karneval der Befreiung. Sie schmeißen ihre bunten Kleider auf den Boden. Sie reißen Palmblätter ab und säumen den Weg. 

Das ist eine öffentliche, laute Feier einer Thronbesteigung durch einen heiligen Narren und Außenseiter. Denn Jesus karikiert den Triumphzug der römischen Kaiser. Wenn ein Kaiser von einem siegreichen Kriegszug zurück in die Hauptstadt kam, ritt er auf einem Schlachtross. Er führte mit sich Soldaten in Reih und Glied und erbeutete Menschen, also Sklavinnen und Sklaven durch das Stadttor. Dagegen setzt Jesus die Prophezeiung aus dem Alten Testament in die Tat um. Der Prophet Sacharja verheißt der Stadt Jerusalem: "Siehe, dein König kommt zu dir, arm und reitet auf einem Esel." (Sacharja 9,9) 

Das macht Machtgehabe lächerlich. Und Jesus macht es wahr bei seinem Einzug in Jerusalem. Seine Karikatur der Macht kostet Jesus das Leben. Er kommt nicht davon. Die Römer verurteilen und ermorden ihn. Aber was er begonnen hat, bleibt. Wie Jesus das Leben feiert, das wirkt bis heute. "Wir sind Narren um Christi willen." Dazu gehört das Närrische, das Feiern und Experimentieren, das Umkehren der Machtverhältnisse. 

Jesus, der Wanderer, und die, die ihm nachfolgen, die mit Anzug und Krawatte genauso wie die mit den zusammengeflickten Kleidern, die Wirren und die Mutigen, die feiern Feste der Freiheit. 

Es gilt das gesprochene Wort.


Musik dieser Sendung:
1. Camille Saint-Saëns, 1. Introduction et Marche royale du Lion, Karneval der Tiere
2. Camille Saint-Saëns, 2. Poules et coqs, Allegro moderato, Karneval der Tiere
3. Camille Saint-Saëns, 3. Hémiones (Animaux veloces)
4. Camille Saint-Saëns, 14. Final (Das Finale), Molto allegro

Literatur dieser Sendung:
1. Hermann Bote, Till Eulenspiegel, Braunschweig: Damnick 2015.