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Die starke schwache Kraft des Vergebens
Die starke schwache Kraft des Vergebens
23.06.2024 08:35
Sendung nachlesen:

Ich bin ein Elefant. Wenn es um das Vergeben geht. In den vergangenen zehn Jahren habe ich deswegen den Kontakt zu drei Freunden verloren. Das waren lange Zeit meine besten Freunde. Und dann haben sie mich enttäuscht. Ich habe den Kontakt abgebrochen. Und bin stur geblieben. Ich bin ein Elefant, weil ich mich sehr genau erinnere. Ich kann mir lebhaft vergegenwärtigen, was die Verletzungen waren. Mit demselben Schmerz der Originalsituation. Das Gefühl von Verletztsein und Enttäuschung bleibt in mir. Weil ich nachtragend bin. Ich trage das mit mir herum. Das macht mich elefantenschwer.

Ich will das nicht vergeben. Aber ich habe dabei ein schlechtes Gewissen: Müsste ich nicht eigentlich vergeben? Ich bin Christ und bete im Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wie eine Selbstverpflichtung ist das. Und das erwarten andere von mir und von uns Christen. Das ist doch euer Ding: Ihr seid doch die Vergeberinnen und Vergeber.

Vielleicht wäre es besser, wenn ich ein Wallaby wäre. Das sind diese kleinen, wuscheligen Kängurus. Wenn ich sie sehen will, habe ich es von meinem Stadtviertel nicht weit zum Berliner Zoo. Die Wallabys vergeben einander. Wissenschaftler haben das beobachtet. Ein Wallaby wägt Nutzen und Kosten von Vergebung ab. Dann geht das kleine Känguru los, streichelt und spielt mit dem Artgenossen, der es vorher angegriffen hat. Es geht das Risiko ein, dass sich die Aggression wiederholt. Aber durch das Verhalten, das wir Menschen Vergebung nennen, gibt es weniger Stress, weniger Angst und Kratzwunden, auch für alle anderen.

Wallabys machen das nur bei kleinen Zusammenstößen. Bei ernsten und intensiven Konflikten ist ihnen das Risiko zu groß. Da sind sie wie ich elefantiger. Und: Es geht dabei um das Überleben der Gruppe und nicht um das Einzeltier und schon gar nicht um seine Gefühle. Obwohl, wer sein Kind unterm Herz im eigenen Beutel trägt, komplexe Gefühle haben muss.

Die Wallabys zeigen mir: Evolutionär wäre es besser, gut im Vergeben zu sein. Vernünftig, strategisch. Egal, was ich dabei denke oder fühle. Vergebung löst Probleme, bringt die Dinge in Ordnung und ist gut für die Gemeinschaft.

Und für mich? Ich will immer noch nicht vergeben. Ich bin beeindruckt von der Vergebungskraft anderer. Für mich ist das ein Akt von Lebensweisheit. Es geschieht aus der Verletzung heraus.

Wo es um Vergebung geht, ist vorher Schmerz in das Leben eingefallen: Mentale oder physische Gewalt, Vernachlässigung, Lügen, zerbrochenes Vertrauen. Es geht nahe.

Nicht irgendjemand macht sich schuldig, sondern ein geliebter Mensch, eine Freundin, ein Partner, ein Kind, ein Elternteil. Darüber hinwegzukommen ist ein Kraftakt.

Erfolgreiche Vergebung kenne ich aus dem Fernsehen. Frisch nachgeschminkt, mit entspanntem Gesichtsausdruck lächelt zum Beispiel der texanische Schauspieler Matthew McConaughey in die Kamera und umarmt seine Mutter, gut ausgeleuchtet. Das wird weltweit übertragen.

Acht Jahre lang haben die beiden nicht miteinander gesprochen. Mutter McConaughey hat Geheimnisse ihres Sohnes an die Presse verkauft. Er hat daraufhin den Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen. Jetzt vergibt er ihr. McConaughey strahlt in die Kamera: „Jetzt ist alles wieder wie vorher.“

Wie mag er sich fühlen: überlegen und stark, befreit? Was geht in seiner Mutter vor sich? Geht das, wieder wie früher? Wie war es früher und wäre es nicht besser, es wäre jetzt anders als früher - aufrichtiger, ehrlicher, vielleicht vorsichtiger im Umgang miteinander?

Matthew McConaughey ist in den USA so etwas wie ein medial gefeierter Vergebungsbotschafter geworden. Er ging mit seiner Vergebungsleistung in ungezählte Talk-Shows. In den USA ist öffentlichkeitwirksames Vergeben zu einem neuen Trend geworden. Nach einer, mit McConaughey in einem Atemzug genannten neuen Harvard Studie fördern Menschen, die vergeben können, damit ihre mentale Gesundheit. (1)

Bei der Studie erhielten Versuchspersonen jeweils ein Buch. In dem stand drin, welche Schritte der Vergebung sie gehen sollten. Eine Anleitung zum Glücklichsein. Wer danach vergeben konnte, erlebte weniger Depression und weniger Angst, so das Ergebnis der Harvard Studie.

Als Selbstverbesserung und Lifestyle wird Vergebung etwas Vorzeigbares. Dafür gibt es auch in Deutschland einen Boom an Vergebungsseminaren mit festen Schritten. Oder neue Vergebungsrituale.

Der wichtigste Akt der Vergebung ist im Fernsehen, bei vielen Seminaren und Ritualen die Umarmung. Umarmen inszeniert Vergebung. Zwei fallen sich um den Hals und sind wieder vereint. Sind sich wieder ganz nahe. Kein Blatt Papier passt mehr dazwischen, wo vorher Distanz herrschte, körperlich und emotional. Ende gut, alles gut.

Das will ich auch. Aber ich will das nur und erst, wenn ich auch innerlich so weit bin. Das funktioniert nicht auf Befehl oder im Handumdrehen. Es braucht Zeit. So ist das in der Bibel. Da gibt es auch die Umarmung, die eine Entzweiung nach vielen Jahren beendet. Zum Beispiel bei den Zwillingen Jakob und Esau. Jakob hat seinen nur um einen Moment älteren Bruder Esau um dessen Erstgeburtsrecht betrogen. Eigentlich hätte Esau den besonderen Segen des Vaters bekommen sollen. Aber Jakob schafft es mit einer List, dass ihr hochbetagter, blinder Vater ihn und nicht Esau segnet. Jakob gaunert seinem Zwillingsbruder dessen Status ab. Er zerstört das Vertrauen zwischen den beiden.

Das hat Folgen. Jakob muss fliehen und baut sich in der Fremde ein neues Leben auf. Jahre später, Jakob ist mittlerweile ein gemachter Mann mit großer Familie, kehrt er nach Hause zurück. Er hat Angst: Wie wird sein Bruder ihn empfangen? Will er sich rächen? Er hört, dass sein Bruder ihm mit 400 Mann entgegenzieht. Das lässt Schlimmes befürchten.

Aber zu Jakobs Überraschung läuft sein Zwillingsbruder Esau ihm entgegen und fällt ihm um den Hals. Beide weinen. Filmreif. Wie hat Esau sich bei der Umarmung gefühlt? War er erleichtert? Hat er Genugtuung verspürt? Den Gedanken gehabt: „Siehst du, am Ende bin ich doch stärker“?

Sein Bruder Jakob hat für die Versöhnung einiges getan. In der Bibel steht: Jakob verneigt sich sieben Mal vor Esau. Er zeigt Reue. Esau kann sehen: Jakob meint es ernst. Er weiß, was er seinem Bruder angetan hat. Er steht in dessen Schuld.

Hat Esau all die Jahre auf einen solchen Akt der Reue gewartet? Davon steht nichts in der Bibel. Sie erzählt einfach: „Esau aber lief ihm entgegen und herzte ihn und fiel ihm um den Hals.“ (1. Mose 33,4)

Mit dem Umarmen ist es ähnlich kompliziert wie mit dem Vergeben. Umarmungen sind nicht immer gleichberechtigt oder so freiwillig, wie sie aussehen. Die Umarmung, mit der ein Schauspieler seiner Mutter vergibt oder ein Bibelheld seinem Bruder, hat immer auch einen Beigeschmack, eine Schieflage. Und diese intensiven Vergebungs-Momente sollen und müssen öffentlichkeitswirksam sein. Bei Jakob und Esau stehen deren versammelte Familien und all ihre Leute drumherum.

Wie mag sich Jakob gefühlt haben in der Umarmung? Alle schauen zu und achten sehr genau auf jede seiner Regungen. Die Versöhnung hat nicht nur Bedeutung für die beiden Brüder. Sie ist wichtig für ihre Großfamilien, für alle, die zu ihnen gehören. Es könnte auch Kalkül auf beiden Seiten dahinterstehen, eine Kosten-Nutzen-Abwägung: Sich versöhnen ist gut für die Gruppe, gut für die Gesellschaft.

Gibt es das überhaupt: Vergebung und Umarmung auf Augenhöhe und mit Gegenseitigkeit? Mit einer Veränderung auf beiden Seiten. Mit Reue und Nachsicht. Das Geschenk eines Neuanfangs, das angenommen wird.

Vergebung und Umarmung sind kein Automatismus. Wer um Vergebung bittet, kann nicht davon ausgehen, dass sie ihm gewährt wird. Wer umarmen will, kann nicht voraussetzen, dass der andere sich das gefallen lässt.

Kindern bringen wir heute bei, wie eine Umarmung funktioniert, sodass sie eben kein Schauspiel ist, die ein Mensch nur mitmacht, weil das so erwartet wird: Wenn sich eine umarmte oder umarmende Person abwendet, dann heißt das: Stopp! Wenn sie die Arme an den Körper legt oder sich kleiner macht, dann heißt das: Stopp!

Menschen, die wie ich nachtragende Elefanten sind und nicht so einfach vergeben wollen, dürfen nicht dazu gezwungen werden, nicht gedrängelt und gegängelt werden.

„Die Schwachen können nicht vergeben, Vergebung ist eine Eigenschaft der Starken“, soll Mahatma Gandhi gesagt. Der Satz hat seine Stärke und seine Schwäche. Er stärkt einerseits die Möglichkeit zu vergeben gegenüber denen, die nur Rache und Heimzahlen kennen. Er ist andererseits wie ein Schlag ins Gesicht für die, die so Schlimmes erlebt haben, dass sie ihrem Täter nicht vergeben können und auch nicht vergeben wollen. Zusätzlich zu dem Leid, das ihnen angetan wurde, werden sie jetzt auch noch als schwach bezeichnet.

Das führt in die Schieflagen der Vergebungskultur, wie sie in meiner evangelischen Kirche gepflegt wird. Es gibt im Protestantismus einen Zwang zu Vergebung. Gott ist gnädig, Gott vergibt, ist ein zentraler Glaubenssatz, der in fast jedem Gottesdienst vorkommt. Das kann missverstanden werden, als müsse immer und sofort egal welches Unrecht vergeben werden.

„Man muss doch auch mal vergeben können“, heißt es dann. Und das richtet sich ausgerechnet an die, denen Leid angetan wurde. Auf perfide Weise gerät aus dem Blick, dass an erster Stelle der Täter seine Schuld bekennen und bereuen muss. Nicht die Betroffenen müssen vergeben, der Täter muss um Vergebung bitten.

Die so genannte ForuM-Studie, die Ende Januar erste Zahlen zu Fällen sexualisierter Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche und Diakonie veröffentlicht hat, spricht vom evangelischen Schuld-Vergebungskomplex. Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, haben in der evangelischen Kirche oft den Druck erlebt, sie sollten doch den Tätern vergeben. Das wäre gut für sie. Sie sollen den heilen Ort Kirche wiederherstellen. Das wäre ein Schritt ihrer eigenen Heilung, alles wieder in Ordnung zu bringen. Dann sei alles wieder wie vorher.

„Und vergib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wer die Bitte aus dem Vaterunser zur Forderung an Betroffene von Gewalt macht, tut ihnen erneut Unrecht an. Jesus sagt: „Siebzigmal siebenmal sollst du vergeben.“ 490 Mal. Das drückt aus, dass Vergebung nicht eben mal so zu haben ist. Vergebung ist ein langer Weg mit siebzigmal sieben Stationen. Und an seinem Ende wird es nicht wieder sein wie vorher. Das darf es auch nicht. Es muss sich etwas verändert haben zum Besseren.

Für Menschen, die Gewalt erfahren, ist dieses „du musst doch vergeben“ nicht fair. Es ist eine Zumutung. Wieso müssen ausgerechnet die Verletzten emotional und körperlich für die Schuld aufkommen, die Schuld kompensieren, die ihnen Unterdrücker angetan haben?

Du musst nicht! Du muss nicht vergeben! Niemand kann dich dazu zwingen. Wir müssen uns dafür nicht stark machen, können verletzt bleiben. Was Vergebung für dich sein soll, was es für dich braucht, wie das aussehen kann – das entscheidet niemand von außen. Nie ein Müssen, immer ein Können - ein schwaches, sanft aufrechterhaltenes „Möglicherweise“.

Alltägliche Vergebung zelebriert selten große film- oder bibelreife Umarmungen, finde ich.

Vielleicht vergeben Menschen nicht mit großen Show-Momenten, sondern mit vielen kleinen Gesten und Symbolen. Wenn der oder die, die einen verletzt hat, wieder mit an den Tisch zum Essen eingeladen wird. Wenn man trotzdem nochmal die Geburtstagskarte schreibt.

Vielleicht ist schwache Vergebung okay. Vielleicht kann sie sanft wirken, langfristig und über Zeit, und sich dann aber auch bewähren, wenn die filmreife Umarmung vorbei wäre und die Scheinwerfer wieder aus. Ohne den Anspruch, erfahrenes Leid auszulöschen oder überschreiben zu können.

Vergebung kann auch ganz leise und unsichtbar bleiben. Wenn jemand innerlich mit sich selbst ringt in stiller Schmerzarbeit. Oft wirklich über Jahrzehnte – einen inneren Weg sucht, mit dem Erlittenen zu leben, und gelassener wird. Das ist nicht episch, keiner sieht, wie es in der Seele arbeitet.

Vielleicht darf schwächliches Vergeben wie Poesie sein. Still wirksam wie ein Gedicht, das nur sanft, fantasievoll verändern will, aber nichts erwartet, keine Antwort braucht. Hoffnung ohne Gewissheit und Anspruch.

Vergebung kann ein Vielleicht sein, ohne Drang, ohne Schauspiel, wohlwissend, dass auch mit all unserer Vergebungs-Kraft die Ruinen der Schuld Ruinen bleiben werden. Vielleicht arbeitet Vergeben mit der Energie des Reiches Gottes, wenn Menschen den Schmerz leise loslassen, still an Menschen festhalten, mit schwacher Stärke – oder es Gott überlassen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik dieser Sendung:

   1. „I Will Survive“ von Nils Landgren 
   2. Adele, Hello
   3. Glückliches Wiedersehen, Der kleine Eisbär
   4. Christina Aguilera, Hurt
   5. Mozart, Konzert für Klarinette in A-Dur, 2. Satz Adagio
   6. Mozart, Konzert für Klarinette in A-Dur, 1. Satz Allegro

Literatur dieser Sendung:
   1. Tyler J. VanderWeele et al., Do Forgiveness Campaign Activities Improve Forgiveness, Mental Health, and Flourishing
        in: International Journal of Public Health, Vol 69, 8. März 2024

 

Sendungen von Pfarrer Bertram Schirr